Forest Jump

Tag 14: Vancouver - Victoria

Ach herrlich, denke ich, als ich mich ächzend in meinem Bett drehe und das nervige Handy abstelle. Es ist dann doch 5:30 Uhr geworden und ich kann es nicht fassen, schon wieder so früh aufstehen zu müssen. Dabei steht heute eigentlich gar nicht so viel auf dem Programm: Es ist lediglich die Fähre, die kurz nach 7 geht, die ich erreichen muss.

Und das ohne Frühstück!, grummle ich, als ich mich aus dem warmen Bett schäle, mich unter der Dusche heiß mache abbrause und meine Fahrradklamotten anziehe. Ich merke, dass heute der erste Tag des ganzen Trips ist, an dem ich mal keine Lust auf Fahrradfahren habe. Heute, so beschließe ich, hätte ich gern zwei Dinge getan: Ausgeschlafen und mich dann noch einmal richtig den ganzen Tag mit Vancouver beschäftigt.

Aber der Zeitplan lässt das nicht zu: Die Wahl lag auf bleiben, dafür ein Tag weniger in Seattle oder durchreisen und dafür noch am Ende der Tour noch einen Verschnauftag zu haben. Die Wahl fällt spontan leicht - jetzt hier vor Ort bedauere ich es ein wenig.

Genauso, wie ich es bedauere, kein Frühstück zu bekommen, denn Pat steht schon unten in der Küche und wendet leckere Pancakes in der Pfanne. Sie lächelt mich mich ihrem tollen Grinsen an, draußen hupt das Taxi und schon finde ich mich inmitten des anschwellenden Berufsverkehrs Vancouvers wieder.


Größere Kartenansicht
Die Fahrt zum Terminal wäre im Morgenverkehr zur Qual geworden - abgesehen davon, dass es etliche Höhenmeter mehr auf dem Tacho bedeutet hätte.

Die Fahrt zum Fähr-Terminal führt uns durch die halbe Stadt. Und ich bedauere es keine Sekunde, hier 80 Dollar investiert zu haben: Der Verkehr ist mörderisch! Zwar sehe ich immer wieder Radfahrer, aber auf der stark befahrenen Stadtautobahn (und einen anderen Weg kenne ich nicht) wäre das jetzt kein Spaß mit meiner schweren Speedmachine. Zumal es auch kräftig bergan geht, als wir West-Vancouver durchqueren.

Nein, denke ich, das war eine Super-Idee, bezahle den äußerst zuvorkommenden Taxi-Mann und stehe in der Horseshoe-Bay am Fährterminal. Mein Boot rüber nach Nanaimo, rüber nach Vancouver Island kommt in 20 Minuten.

Hier bin ich richtig: Und da kommt auch schon die Fähre nach Nanaimo.

Mit Fahrrad, so fällt mir spontan ein, hätte ich diese Fähre niemals erreicht. Nicht, wenn ich den Berg hätte befahren müssen - dafür müsste ein Wecker mal locker halb vier klingeln ...

Nach einigem Hin & her mit meiner Reservierung (die natürlich falsch war, weil ein Fahrrad kein "Fahrzeug" ist) habe ich endlich das richtige Ticket von der netten, jungen Schalterdame bekommen, kann einen allzu Liegerad-interessierten Taxifahrer endlich abschütteln (ich bin noch etwas grantig, da ich noch keinen Kaffee hatte) und finde nach wiederum einigem Hin & her dann endlich die Rampe, wo ich warten soll, bis das Schiff angelegt hat.

Nach und nach treffen noch ein Rennradler - Kanadier - und zwei andere Radtouristen ein. Er ist schweigsam, sucht offenbar auch keinen Kontakt, sie ist sofort sehr gesprächig und so stehe ich 5 Minuten später mit Emma am Dock und wir schnacken übers Tourenfahren.

Emma ist großartig: 27 Jahre jung, voll bepackt mit Zelt und allem Pipapo unterwegs, sie liebt Outdoor, sie liebt das Radfahren, sie liebt die Freiheit und sie ist für unbestimmte Zeit mit ihrem Rad unterwegs. Ihr Lächeln ist aufrichtig und ansteckend - und ich bete, dass sie auch nach Victoria will.

Will sie aber nicht. Emma wird nach Norden fahren.

Emma, wunderbare Emma, es war eine wahre Freude, 2 Stunden meines Lebens mit Dir geteilt zu haben.

Schade, denke ich, schade, immer wieder schade, denn wir verbringen zwei wunderbare Stunden an Bord der Fähre. Unterhalten uns über alles mögliche und unmögliche und ich merke so langsam, wie sehr mir ein Gefährte, jemand, mit dem man sich so richtig gut versteht, jemand, mit dem man gern Zeit verbringt, fehlt. Wie allein ich die ganze Tour über war. Und wie toll es wäre, jemanden wie Emma an meiner Seite zu haben - jemandem, der das, was ich hier tue, genauso liebt, wie ich.

Und ob ich mich nun während unserer gemeinsamen Stunden ein bisschen verknallt habe oder nicht, eines wird mir beim Abschied klar, als wir am geöffneten Deck stehen, die Insel immer näher kommt und der Abschied naht: Es ist immer wieder erstaunlich, wie ähnlich wir Menschen uns doch sind. In unseren Träumen, Sehnsüchten, Ansichten und in dem, was wir wollen, erwrten vom Leben, was wir denken und fühlen. Kurz fügt das Schicksal uns zusammen - und immer wieder merke ich, dass es keinen Unterschied, absolut keinen Unterschied, zwischen einem Deutschen wie mir, einer Kanadierin wie Emma oder dem farbigen Truckfahrer, der hinter uns in seinen LKW steigt und vorher noch ein kleines Gespräch über die Speedmachine angefangen hat. Wir sind alle gleich.

Und begegnen uns manchmal auf einer Ebene, in der wir uns alle kennen. Alles wissen. In der es keine Misverständnisse gibt, wo alles klar ist.
Faszinierend.

Vancouver Island in Sicht. Klar zum Ausschiffen!

Mit einem kleinen Ruck legen wir an. Emma blickt etwas traurig, aber auch gespannt, denn auch für sie ist Vancouver Island Neuland. Ich schaue neugierig hinüber, denn Martin, der Cellist aus Kamloops, eigentlich alle Leute, inklusive meiner Reiseführer, hatten mir Vancouver Island als sattgrüne, urwaldige, naturbelassene Insel voller Tiere, Wälder und ohne Menschen beschrieben - und ich blicke auch etwas traurig, und so fällt unsere Umarmung zum Abschied auch ungewollt melancholisch aus.

Wahnsinn, wie man sich emotional in 2 Stunden an einen Menschen binden kann, denke ich, als ich Emma winke, sie abbiegt und hinter einem Gebäude verschwindet, ehe auch ich mich einklinke und das Liegerad antritt, den Süden dieser Insel zu erobern.

Ganz schön dichter Verkehr.

Vancouver Island empfängt mich mit einer frischen, fast kalten Brise. Es weht mir feucht von der Seite in um die Nase, leider rieche ich eher Abgase als den Geruch nassen Waldes, den ich hier erwartet hätte. Der Highway - immerhin die letzten 120 Kilometer auf dem Trans Canada, der in Victoria endet - ist hier viel dichter befahren als noch drüben auf dem Festland.

Ständig werde ich von den unvermeidlichen RVs überholt, Autos schießen an mir vorbei aber dafür weniger Trucks, was ich schonmal sehr gut finde. Mein Seitenstreifen ist hier auch etwas schmaler als in den Rockies, aber immer noch breit genug, sodass ich meine eigene kleine Fahrbahn habe.

Es fröstelt mir, als ich mich die erste Steigung hocharbeite. Mein Profil sagt mir für heute einiges an Höhenmetern voraus, aber es dürfte nicht sehr schlimm werden, was die Gradienten angeht. Und so lege ich mich gemütlich in meinen Sitz, stecke die Nase in den Wind und trete rein.

Endlich kommt man hier mal in einen Wald hinein.

Vancouver Island hält nur teilweise, was mir die anderen versprochen haben: Zwar fahre ich an dichten Wäldern entlang und auch dutzende Kilometer durch unbewohntes Gebiet, aber der "Urwald", von dem Martin gesprochen hat, die schroffe, unberührte Landschaft, die gibt es hier, auf der Ostseite der Insel eher nicht. Dazu müsste ich wohl die rund 50 Kilometer breite Insel einmal komplett durchqueren um an der Westseite zu fahren - doch dort gibt es keine "geraden" Straßen, sodass die Kilometerleistung enorm ansteigen würde.

Und da ich nur noch ein paar Tage in Kanada Zeit habe, musste ich mich wohl oder übel für den kürzeren Weg entscheiden, den Highway halt.

Naja, so fahre ich, so oft ich Pause mache, stille Waldwege ein paar hundert Meter in den Wald und hocke mich halt so in die Natur - nicht weit ab rauscht der dichte Verkehr, aber wenigstens höre ich jetzt das Gezwitscher der Vögel und kann das Harz der Bäume riechen.

Ganz tolle Natur, Wald ohne Ende - leider zu viel Verkehr für meinen Geschmack.

Dann kommt ab 11 Uhr auch endlich die Sonne hervor, ich kann meine lange Bike-Jacke ausziehen und endlich im Sonnenschein fahren.

Die erste richtig lange und ekelige Rampe bringe ich bei Ladysmith hinter mich. Dann geht es durch dichten Wald ins Tsussie-Indianerreservat, wo ich an einer Tanke im Ort mit dem schönen Namen Chimainus Rast mache. Dort spreche ich mit zwei Trucker-Indianern, die mich zur Abwechslung einmal nicht auf mein Liegerad ansprechen, sondern auf die Schweden-Flagge, die ich nach meiner Tour dort auf die Packtaschen aufgenäht hatte.
Sie sagen, dass sie schon immer davon träumen, einmal im Leben nach Schweden zu kommen.

Wie komisch, denke ich, und ich habe immer geträumt, einmal im Leben nach Kanada zu kommen. Und auch hier wieder wundere ich mich, wie sehr wir Menschen uns doch gleichen in unseren Träumen, egal, welche Hautfarbe, Religion oder Landesflagge bei uns draufsteht.

Wir verabschieden uns und ich mache mich daran, weiter zu fahren - als ich mich einem elend langen, elend steilen Anstieg gegenüber sehe. Und spontan in meiner Verzweiflung fast durchdrehe, als auf dem Straßennamen der kleinen Anwohnerstraße, die hier das Stück parallel zum Highway läuft, steht: "Smiley Road".

Na, die haben Humor, die Indianer!

Herrliche Aussicht - tolle Fischgründe, ergiebige Jagdreviere. Vancouver Island hält, was es verspricht.

Langsam wird es wieder heftig: Das Google-Profil hat sich mal wieder in Understatement geübt, muss ich erkennen. Denn es geht heftig bergan und bergab. Und leider bläst jener Wind, der mich gestern noch so unverschämt schnell die 160 Kilometer nach Vancouver hat abreiten lassen, heute noch genauso schnell - da ich aber gestern nach Norden fuhr und heute genau entgegen gesetzt, nämlich nach Süden muss, habe ich diesen starken Strom nun genau von vorn.
Und das nervt!

Ich komme beschwerlich tretend irgendwann durch Duncan, mache wieder eine erzwungene Pause, kuriere meine steifen Waden so gut es eben geht und merke endgültig, dass diese Etappe eben doch nicht mal so schnell 120 Kilometer abnudeln ist - das hier ist heute echte, harte Arbeit.

Trotz der Strapazen entschädigt mich doch auch immer wieder ein grandioser Ausblick auf die kleinen vorgelagerten Inseln für die beschwerlichen Aufstiege. Wie muss das hier nur früher gewesen sein - denke ich mal wieder - als die Indianer noch die Herren ihres Landes waren und hier jagen und fischen konnten, ohne dass die qualmenden 4-FWD-Trucks durch die Landschaft gerast sind.

Meister Rehbock springt mit uns um die Wette.

Á propos "Jagen", denkt sich da wohl ein Reh, taucht wie vom Blitz (oder einem Indianer-Pfeil) getroffen plötzlich neben mir aus dem Gebüsch auf, schaut mich an, macht große Augen, sagt "Oh, Sorry" und hoppelt los. Da es nicht nach rechts weg laufen kann - eine sxtrem steile Böschung mit Felsen versperrt den Weg - rennt es so auf dem schmalen Grünstreifen zwischen Highway und Felsen einige hundert Meter mit dem Verkehr und der Speedmachine mit, ehe es mit einem flinken Satz eine Bresche in der Böschung ausnutzt und in den bergigen Wald flüchtet.

Ein schöner Anblick - und mithin das zweite Wildtier meiner Kanada-Reise. Schön, dass ich bisher nicht einen Bären gesehen habe, dafür aber ´nen Adler und ein Reh. Hat auch nicht jeder ...

Hitze und Steigung - meine besten Freunde. Da sind sie wieder.

Hinter Hutchinsen beginnt die Strecke merklich anzusteigen. Wir haben Mittag, meine Beine schmerzen und die Brühe aus meiner Trinkflasche kann mich alles andere als erfrischen. Ich merke schon, das wird jetzt der unangenehme Teil der Etappe.

Jener Teil, bei dem die inneren Schweinehunde - ja, es gibt mehrere - anfangen, dir das Hirn bratschig zu reden. Es beginnt mit dem Pausenschweinehund, der dir einflößt, doch noch eine Pause zu machen. Eine kleine nur, eine, zum Pinkeln und außerdem hat man ja eh zu wenig Fotos.

Die Pause, die macht man dann auch, denn der Logig-Schweinehund kommt dem Pausen-Schweinehund zu Hilfe und erklärt - sehr einleuchtend - dass gerade bei schweren körperlichen Anstrengungen, wie diese hier unzweifelhaft eine ist, die Dehydration ein ernsthaftes Problem darstellt und nur durch regelmäßiges Trinken bei regelmäßigen Pausen vermieden werden kann.

Zum Pausen- und Logik-Schweinehund kommt dann der "Du hast es Dir doch verdient!"-Schweinehund, der mir lang und breit vorrechnet, wie viel Geld und Zeit und Aufwand ich bisher in diesen Trip investiert habe und mir die Frage stellt, ob ich diesen Urlaub nun auch mal genießen oder mich abquälen möchte. Er redet und redet und meint, ich soll so oft wie möglich anhalten, die Aussicht genießen und mir keinen Kopf machen.

Dann gesellt sich zu allem Überfluss noch der Scheißegal-Schweinehund dazu, der nur spöttisch die Achseln hochzieht und meint, dass ich mich hier abmühe und herumquäle, wobei ich doch nichts dafür bekäme: Bist du Lance Armstrong?, fragt er mich, bekommst Du Geld dafür? Ruhm? Ehre? Nein? Also warum machst Du dich so fertig? Scheiß drauf - mach langsam, mach halblang, Du kommst schon an!

Ein martialischer Totempfahl, der irgendwann auf einem der vielen schweren Zwischengipfel meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, unterbricht das Gelaber der vielen Schweinehunde.

Indianerland wohin man blickt. Leider bleibt von ihrer Kultur nicht viel: Eine Andenkentafel hier und ein Casino da. Das wars.

Ich halte an (dann doch), die Schweinehunde brechen in allgemeinen Jubel aus, meine brennenden Waden stimmen ein und meine Augen, die sich an einer richtig schönen, wild-romantischen Aussicht über eine vorgelagerte Halbinsel erfreuen, gesellen sich dazu.

So setze ich mich, nachdem ich das obligatorische Foto, die obligatorische Banane und den obligatorischen Riegel gegessen habe, auf eine Bank nahebei, lese ein paar Informationen über den Indianer-Stamm, der hier lebt, als eine fette Ami-Karosse auf dem Parkplatz hält.

Ein Pärchen in ihren 50ern steigt aus, hinten kämpft sich ein sehr alter Mann, etwas wackelig auf den Beinen, aus dem Fond.
Das Pärchen geht zur Indianer-Infosäule, der ältere Herr wackelt zielgerichtet auf mein Liegerad, das nur wenige Meter neben mir parkt, zu. Er würdigt mich keines Blickes, hat nur Augen für die Speedmachine. Er steht direkt nebem dem Liegerad, beschaut es, und - ich glaube meinen Augen kaum - fässt den Lenker an, hebt sein rechtes Bein und setzt an, einzusteigen.

Ich springe auf, sage - forsch - "Sorry?!?" und starre ihn an.
Er jedoch, ohne eine Spur von Scham oder der Einsicht, hier einfach mal so fremdes Eigentum zu betatschen, glotzt mich dummdreist an und sagt "Can I take a Seat?" in einem Tonfall, der eher eine Feststellung denn eine Frage darstellt.
"No.", sage ich, selbe Tonlage.
Da dreht er sich wortlos um und geht.

Ich bin sprachlos.
So etwas dreistes habe ich noch nie erlebt. Und dabei dachte ich immer, den US-Amerikanern wäre privates Eigentum heilig? Unglaublich!

Meine Muskeln waren auch schon mal geschmeidiger.

Ächzend lasse ich mich nach einigen Minuten wieder in den Sitz meines Liegerades gleiten, klinke meine Pedale ein fahre kopfschüttelnd weiter.

Es geht einige Male giftig bergan und bergab, zeitweilig ganz ohne Seitenstreifen, was meiner Laune nicht gerade einen Booster verschafft, denn der Verkehr ist nachwievor dicht. Da in manchen Abschnitten, durch die ich fahre, vor allem in Felsschluchten und dichten Waldabschnitten, die Luft zu stehen scheint, fahre ich - unangenehm im Abgas der Autos schwebend - durch Feinstaubansammlungen, die mir die Luft aus den Lungen pressen. Nicht schön.

Schön aber ist, dass ich von einem Wald in den nächsten fliege, einer dichter als der andere. Und ich denke mir so, wenn diese Ostseite von Vancouver Island die dichter besiedelte ist, dann muss an der Westseite wirklich der unberührte Urwald sein.

Berge, Wald und Berge und Wald. Ein richtiger Forest Jump ist das heute.

Irgendwann ist es nur noch heiß. Es ist heiß, die Luft steht und die Autos nerven mich einfach nur noch. Dazu steigt die Straße immer wieder vor mir an, ich kämpfe mich, von bequemen 25 km/h, die wegen des Gegenwindes eh schon inakzeptabel sind, auf deprimierende 6 km/h abgebremst die STeigungen empor und schwitze dabei unaufhörlich, sodass ich Angst bekomme, meine Wasservorräte könnten nicht reichen - denn einen nächsten Ort gibt es laut meiner Karte erst wieder am Ziel, Victoria.

Ich fange wieder an, Stimmen zu hören und beginne, in meinem Wasserwahn das eine oder andere imaginäre Reh auf die Straße rennen zu sehen - kein Wunder, es sind mindestens 30 Grad und wenn ich nicht durch die Cleats fest in meinen Pedalen eingeklingt wäre, würde ich auf meinem Schweiß schwimmend vom Sitz meines Liegerads rutschen.

Ich fantasiere und erreiche den Höhepunkt meiner Hitzetrance, als ich an einem Schild vorbei komme, dass mir den Weg zum Eiscreme-Berg weist und ich mich schon auf einer kalten Steigung aus cremigem Erdbeer-Eis umfallen und im kühlen Nass einsinken sehe ...

So ein Berg wäre jetzt genau das Richtige.

Icecream Mountain war nur ein Name, wie ich enttäuscht herausfinde, aber real, schmerzlich real hingegen ist der Berg, dem ich mich nun gegenüber sehe. Höhe(n)punkt meiner Etappe, Prüfung und Hindernis, Folter und Lohn zugleich: Der Malahat.

Zunächst nehme ich ihn gar nicht wahr. Die Straße geht mal wieder bergan, so, wie sie es seit der Fähre schon ein dutzend mal getan hat. Ich schalte die Gänge runter, ziehe einen Flunsch, und beginne, mich mit hoher Frequenz und stetigem Tritt langsam - aber sicher - den Berg empor zu schrauben.

Ich fixiere meinen Blick auf die Biegung da vorn, habe sie immer im Blick, sehe, zähle, hoffe ud beiße, dass sie näher kommt, dann kommt sie da auch, ich bin da, bin oben, fahre durch die Biegung, es geht bergab, geschafft.
Es geht bergab? Geschafft?
Nein, es geht weiter bergan.

Noch ein Flunsch gezogen. Wieder zurück geschaltet, wieder den Schweiß von der Stirn gewischt und in ruhigem Tritt in die Vertikale gegangen.
Ich rege mich über die Autos auf, die genau neben mir Gas zu geben scheinen um mich ja in eine schwarze Wolke ätzenden Qualm zu hüllen. Keine Chance, ihnen auszuweichen. Furchtbar.


Größere Kartenansicht

Nächste Biegung, meine Beine brennen, nächste Kurve, nur noch ein paar hundert Meter. Nur noch eine Minute, nur noch ein paar Tritte. Ich fahre in die Biegung, letzte Höhenmeter, da sehe ich den Scheitelpunkt des Berges. Sehe ich ihn? Ist er das?
Weiter bergan.
Scheiße!

Irgendwann, mich überholt gerade laut knatternd ein Motorradclub. Ich könnte diesen Club, schießt es mir gerade durch den Kopf, wenn ich blind und taub wäre, am Geruch ihrer Abgase erkennen: Mittlerweile habe ich meine olfaktorischen Fähigkeiten bei der Unterscheidung verschiedenster Abgase perfektioniert: Trucks riechen schwer, ölig. PickUps und große Limosinen eher giftig, feucht und Motorräder haben diesen beißenden, fast ein wenig süße Geruch.

Bevor ich ernsthaft darüber nachdenke, bei Wetten dass?! aufzutreten, biege ich - nun endlich an der Spitze des Malahat angekommen - in eine in den Fels gesprengte Aussichtsplattform ab und mache eine kleine Pause.

Auf dem Malahat - die letzte Bergprüfung des Tages ist geschafft. Halbwegs.

Wir sind hier auf nur knapp 200 Meter Höhe und fast schäme ich mich dafür, dass mir diese vergleichsweise iedrige Schaufel Erde, die Gott hier abgekippt hat, solche Probleme bereitet, aber so ist es nunmal.

Wahrscheinlich, so denke ich nach, liegt das heute an drei Gründen: Extreme Hitze durch eine wie wahnsinnig scheinende Sonne in Verbindung mit lähmenden Abgasen.

Kann es sein, sinniere ich, dass die Giftstoffe in den Qualmwolken mich irgendwie lähmen? Dass ich zuviel Mon- und Dioxide eingeatmet habe? Dass Feinstaub mich irgendwie lähmt? Immerhin hänge ich nur wenige Zentimeter über dem Boden und mich überholt alle 10 bis 20 Sekunden ein Auto. Das macht bei 5 Stunden Fahrt einen Konvoi von 1.800 Autos. Ich muss fast husten, als ich das ausrechne.

Ich erfrische mich noch kurz an heißer Apfelschorle, steige wieder auf und fahre zurück auf den Highway. Und merke nach einigen Metern, dass dies noch nicht der Gipfel des Malahat war. Erst, als ich mich, langsam die Lust verlierend, eine weitere, ekelhafte Steigung hinaufgeschraubt habe, geht es endlich wieder abwärts.

Die Straße schießt in teilweise abenteuerlicher Manier nach unten - da ich keinen Seitenstreifen mehr habe (es fährt sich hier wie auf einer deutschen Bundesstraße) muss ich höllisch auf die Autos aufpassen, mit denen ich mir nun eine Fahrbahn teile.
Ich muss laut aufschreien, ein ich ein besonders steiles Stück mit fast 70 km/h hinabschieße und mit voller Fahrt in ein dunkles Loch schieße, dass da wie eine Höhle im Wald klafft - und ich von Hitze, Sonne, blendender Helligkeit in dunklen, kühlenden Schatten mit würziger Waldluft fetze. Ein Wahnsinnsgefühl!

Dann erreiche ich die ersten Ausläufer von Victoria, meinem Etappenziel. Zunächst noch dem Highway - nun Hightech-artig ausgebaut mit je drei Fahrspuren, Spiegelbelag und Luxusseitenstreifen - folgend, fahre ich später in die bergigen Suburbs von Victoria ein. Ich kann Geschwindigkeiten jenseits der 30 km/h halten, was ich mir nur mit der Mobilisierung meiner Kraftreserven und der Sehnsucht nach einer Wanne und einem kalten Bier erklären kann.
Haben Sie nach mir benannt, die Speed-Avenue.

An der Speed-Avenue stehe ich kurz im Stau - und kann erst zu Hause über diese Ironie lächeln. Zunächst aber muss ich hier auf den Fußweg wechseln und bin, wie immer in der Stadt, schneller als der blecherne Lindwurm.

Ich bin etwas irritiert, weil die Straße mal links herum, mal rechts herum führt, aber schlussendlich fahre ich ins Zentrum der Stadt ein und finde mich sogleich auf der Hauptachse wieder: Eine breite, schicke Einkaufsstraße, die mich sofort an Lower Manhattan erinnert: Red Brickstone-Häuser, ausladende Cafés und eine Menge Touristen.

Dann rolle ich an einer Art chinesischen Pagode vorbei, die das Eingangstor zu Chinatwon markiert, über das ich schon so viel gelesen habe. Ich halte kurz an, atme den Flow dieser Stadt, die tatsächlich wie hierher versetzt zu sein scheint, so ganz und gar nicht nach Nordamerika passen will. Dann biege ich links ab und kämpfe mich den letzten Berg des Tages empor, ehe ich an einer Tanke mich noch einmal vergewissere, auf dem richtigen Weg zum Abbeymore Manor, meiner B&B-Bleibe für diese Nacht, zu sein.

Und dann, dann stehe ich vor meiner bescheidenen Bleibe.
Bleibe stehen.
Steige ab.
Schüttle mir den Traumsand aus den Augen, denn ich fürchte, unterwegs dann doch eingeschlafen zu sein - DAS ist mein Bed & Breakfast?

Mein Liegerad, meine Villa, mein ...

Diese Villa schlägt alles, was ich bisher gesehen habe. Riesig, massiv, massig steht sie da, thront über allem, ein Schloss, eine Lodge, ein Palast, entscheide ich, als ich - nicht ohne vorher noch ein letzte Mal die Adresse zu checken - auf den Hof rolle, über weißen, gebürsteten Kies fahre, meine Speedmachine abstelle und mich irgendwie peinlich unangemessen schwitzend finde, als ich den blanken Messingklingelknopf betätige.

Mir öffnet ein wahnsinnig gut gelaunter Innkeeper, begrüßt mich mit den Worten "Ah, you are my Cyclist!", freut sich, nimmt mir sogleich die Packtaschen aus der Hand, schenkt mir an der Rezeption ein Glas Wasser ein ("Do you like it with or without Gas?") und fragt mich, ob ich gut hergefunden hätte.

Ich bin ganz sprachlos, stehe wie verloren in dieser 1912 gebauten ehemaligen Heimstatt eines Kohlemilliardärs unter dunklen Holzdecken zwischen antiken Möbeln auf einem einen Meter dicken Perserteppich und atme Reichtum.
"Äh, es war anstrengend ...", stammle ich.
"Na, dann zeige ich Dir erstmal Dein Zimmer", meint er und fordert mich auf, ihm zu folgen.

Es geht eine Treppe empor, die für Hollywood-Filme locker als Kulisse für eine Königshochzeit herhalten könnte, während wir in den ersten Stock wechseln, erzählt er: "Wir haben für Dich unseren kleinsten - aber mithin den schönsten Raum - gebucht."

Mit diesen Worten öffnet er die verzierte Holztür, und mir fällt die Kinnlade herunter. Wenn das der kleinste Raum ist ... herrgott ... wie sind dann die anderen?

Er lässt mich mit meinem Staunen allein, schließt die Tür, sagt im Rausgehen, wenn ich etwas hätte, könne ich ihm jeden Wunsch mitteilen, informiert mich, dass es morgen früh ("Wann möchtest Du frühstücken?") 5 Gänge geben wird und meint, dass er mir unten noch gute Restaurants empfehlen könne, wenn ich das wünsche.

Klack. Ich stehe da. Schaue mich um. Der "Lilliac Room" ist das größte, was ich auf dieser Reise bewohnt habe - auch wenn morgen noch ein anderes B&B in Seattle ansteht - dessen bin ich mir sicher.
Vom Wohnzimmer, das mit einer Sitzecke, zwei antiken Tischchen und einem riesigen Bett ausgestattet ist, öffnet eine riesige gläserne Flügeltür das Badezimmer, in dem erst einmal eine ebenso antike freistehende Badewanne steht.
Dich natürlich sogleich mit heißem Wasser fülle.
Und mich darin einweiche.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein ...

So liege ich im Luxus. Hinter mir dringt Vogelgezwitscher durch das Badezimmer, drinnen seife ich mich mit Bio-Kosmetika von AVEDA ein, die dort en mass bereit stehen. Es ist wahrer Luxus, in dem ich mich hier wälze und ich kann es kaum fassen, was ich mir hier Wundervolles genehmige.

Ich lasse mich durch den warmen Luftzug trocknen, der durch die großen Fenster zieht, laufe nackt in meinem Reich für eine Nacht herum und beschaue mir die geschmackvollen Möbelstücke - kein Billigkram, kein 0-8-15-Hotelbedarf, das hier ist echt, alt. 1912 erbaut. Milliardär, denke ich mir. Wer hat hier wohl früher im Lilliac Room gewohnt?

Nobel, nobel ...

Unten in der riesigen Lobby, die voll gestellt ist mir Megasofas, Riesensesseln und einem Kamin so groß wie eine Grotte, mache ich es mir kurz bequem, blättere in der neuesten Ausgabe des Esquire, überlege kurz, ob ich eine Partie Schach gegen mich selbst spielen soll - was Quatsch ist, aber die political ganz und gar incorrect aus Elfenbein geschnitzten Figuren faszinieren mich nun einmal, bis ich mich endlich vom diskreten Protz dieses Palasten losreißen kann um mich aufzumachen, Victoria zu entdecken.

Draußen versinkt die Sonne schon, ich werfe einen Blick über die Schulter, laufe durch die selbe Straße, die ich schon hergekommen bin und merke erst jetzt, dass ich hier im Blankenese von Victoria residiere: Eine Villa ist größer als die andere, irgendwann komme ich sogar an einem ganzen schottischen Schloß vorbei.

Joa, da kann man sich schonmal ein schottisches Geisterschloss in Kanada bauen.

Ich kann nur mit dem Kopf schütteln, denn so viel Reichtum, so viel offensichtlicher Luxus, diese Massen an S-Klassen und Porsches, die da in den Auffahrten stehen, sind eher nicht meine Welt. Ich bin da einfacher. Ich bin da proletarischer.

Und so freue ich mich auch, als ich nach etwa 20 Minuten Fußmarsch in Downtown Victoria angekommen bin, das schon urbaner, normaler, lebendiger daherkommt.

Ich merke meinen ersten Eindruck von vorhin bestätigt: Dies hier alles erinnert mich so an Brooklyn, New York City, dass ich mich sofort wohl, ja fast, zu Hause, fühle. Ich schlendere durch die Straßen und merke, dass mir noch ein Souvenier fehlt: Die kanadische Flagge, die natürlich nach dieser Tour auf meiner Packtasche prangen muss. So stürze ich mich ins Touristengewimmel, in der Hand meinen wohl verdienten Latte Macchiato und suche Shop um Shop nach dem Batch ab.

Brooklyn? Nee, Victoria.

Da komme ich an einem Café an einem Tisch vorbei, an dem ein Pärchen sitzt. Mein Alter, denke ich. Sie ist eine ganz Süße, nett angezogen, sympathisch, er kommt auch ganz nett rüber. Beide sitzen da, unterhalten sich aber kaum.
Da keift sie auf einmal los: "Immer unterbrichst Du mich!"
Deutsche, aha.
Er: "Aber ich ..."
Sie: "Schon wieder! Das ist schon das fünfte mal, dass Du mich unterbrichst!"
Äh, ja. Armes Kerlchen. Da nützt ihm auch ihr kurzes süßes Röckchen nix.

Sie ist so laut, dass ich mich fast ein wenig erschrecke. Und im Vorbeigehen leise in mich hineingrinsend denke ich, wie gut es doch manchmal ist, Single zu sein.

Ich schlendere durch die Straßen und entdecke dann und wann Reminiszenzen an meine Heimat - die Rheinland Bakery erfreut sich ebenso großer Beliebtheit, wie das German Auto Repair oder ein Laden für Kuckucksuhren, den ich mich aber wegen der vielen anstehenden Kunden nicht getraue zu fotografieren.

Ich biege rechts am Hafen ab, komme an dem englisch-imperial anmutenden "Parliament", dem Sitz des Bürgermeisters, vorbei und stehe irgendwann am Ende des Trans Canada Highways. Ganz einfach. Unvermittelt. Da hört er auf. Ein kleines Schild gibt Auskunft, schmucklos, ohne Tamtam - nach 8.030 Kilometern ist Schluss. 1.000 davon bin ich ihm gefolgt.

Da stehe ich nun, blicke auf den letzten Zentimeter Asphalt dieser großen transkontinantalen Straße und bin etwas gerührt. Ein heftiges Magenknurren reißt mich aus meiner Träumerei.


Größere Kartenansicht
Das war es dann auch schon mit dem Highway. Alles Weitere dann auf US-amerikanischen Autobahnen.

Die Straßen, durch die ich gekommen bin, gehe ich wieder zurück. Inzwischen konnte ich auch meinen Aufnäher kaufen und meinen Durst noch an einem Vitamin-Water stillen, als ich an einem einladenden japanischen Restaurant vorbei komme.

Unscheinbar, versteckt, ja fast, als wolle es sich bewusst allzu vielen Kunden entziehen, ist dort ein schmuckloser, ganz in Schwarz und Weiß gehaltener Eingang, ein weißer Jutevorhang versperrt die Sicht. Sanfte Klänge dringen nach außen, nur hörbar für den, der sie hören will.

Ich vergewissere mich, dass dies hier nicht nur eine bloße Sushi-Bar ist und trete ein. Einem langen, dunklen, ebenso schlichten Gang muss ich folgen, ehe ich, wahrscheinlich im Hinterhaus angekommen, in ein schwummriges, mit dunklem Holzboden und Tatami-Bereichen ausgestatteten Speiseraum komme.

Es ist rappelvoll, es duftet, überall stehen leckere Dinge auf den Tischen, viele Gäste, meist Japaner, unterhalten sich. Ich fühle mich sofort wohl, denn die dunkle Atmosphäre nimmt mich sofort, hüllt mich ein.

Ich werde platziert und bestelle eine Reise durch die japanische Küche. Sushi wird es auch geben - aber auch Tempura und andere Sachen, die ich weder namentlich benennen, noch bis heute genau sagen könnte, was das am Ende war, was ich dort gegessen habe.

Und gegessen habe ich beleibe - satt wie ein König, ergötzt an zig neuen Geschmackserlebnissen und leicht betäubt von einem Liter Asahi-Bier zahle ich einen überraschend niedrigen Betrag und ziehe von dannen, trete draußen in die Abendhitze, federe leichten Schrittes zurück in mein Schloss, wo ich bei einer Schorle am PC noch ein paar Mails schreibe, etwas in einer Zeitschrift blättere, ehe ich mich hinlege, danieder sinke und mich in meinem Königsbett einkuschle.

Und genau das ist doch mein Spruch!

So träume ich mich zurück, zurück auf den Highway, zurück auf den Asphalt, dem ich so lange gefolgt bin, zurück auf die Straße, die für nun fast schon drei Wochen mein ständiger Begleiter war, mein Freund, mein Feind, mein Ein und Alles.

Zurück zu der Straße, deren Ende, schmucklos aufgehend in einer T-Kreuzung am Pazifik, ich gesehen habe. Ende. Aus.

Aber, so fährt es mir als letzten Gedanken noch durch den Kopf, dieses Ende ist irgendwie ja auch ein Anfang. Kilometer Null. Beginn eines großen Abenteuers - für andere.
Für mich endet morgen, nach weiteren 120 Kilometern, in Seattle das Meine. Für mich wird dann Schluss sein. Vorerst. Denn, so beschließe ich, ich komme bestimmt wieder.

Gefahren: 120,70 km in 4:33 h und okayen 26,49 km/h Schnitt