Kicking Ass am Kicking Horse

Tag 5: Banff - Golden

Das einzige, das ich mir für heute morgen gewünscht hatte, war Sonne. Wirklich, ein kleiner Wunsch, ein kli-kla-klitzekleiner. Nicht zu viel verlangt vom großen Wettergott, finde ich. Kein Regen, bitte kein Regen! Ein bisschen Kälte, okay, kein Ding. Dafür bin ich gerüstet - nur bitte ja keinen Regen. Das kann ich im Urlaub nicht gebrauchen.

Ich stehe auf, ziehe die Vorhänge beiseite und schaue in den Himmel. Na, eigentlich hätte ich es auch wissen können: Wenn Engel reisen, dann ist Petrus gnädig.

Weiß-blass steht schläfrig ein Mond noch am Himmel - nicht weit neben ihm, in hellstem Gelb, das Zentralgestirn an einem makellosen Blau. Die liebe Sonne scheint mir fröhlich ins Gesicht und ruft: "Los, Alter, frühstücke endlich und schwing Dich auf Dein Rad!" Und genau das tue ich auch.

Yeah! Es scheint die Sonne - Regen hätte mir echt die Laune verdorben. Glückspilz müsste man sein.

Ich zittere zunächst noch etwas in der Morgenkühle, aber nach ein, zwei Kilometern bin ich warm gefahren. Nach einem Tag des Müßiggangs hat mich der Trans Canada-Highway nun wieder. Es fühlt sich gut an, hier zu fahren. Endlich wieder in meinem Element. Herrlich, ich blinzle in die Sonne, sage Banff adé und trete rein. Schnell finde ich meinen Rhythmus, was auch daran liegt, dass der Highway hier gerade recht eben verläuft - die Wellen sind kaum mehr zu erkennen und wenn es einmal bergan geht, dann nie mehr als mit 1 % Steigungsgrad.

Komfortabel wie immer fahre ich auf dem breiten Seitenstreifen, und wenn es den hier heute nicht gäbe, wäre es auch nicht schlimm, denn Verkehr ist hier heute fast keiner.

Noch bin ich fast allein auf weiter Flur - die Morgensonne traut sich auch noch nicht so Recht zu scheinen.

Die Sonne steht schon recht hoch am Himmel und zu meiner Überraschung kann sich auch die Scheibe des Erdtrabanten noch recht lange im Strahleblau über mir halten - ich schaue nach links in weite, weite Tal des Bow-River, rieche harzige Pinienwälder, folge mit den Augen dem blauen Glitzerband des Flusses bis er hinter dem nächsten Berg verschwindet.

Und ich spüre, dass dies eine besondere Etappe werden wird. Eigentlich beginnt alles ganz harmlos mit einem kleinen Aufstieg, der sich an der Flanke eines der Begre hinzieht. Da ich die Rückseite (zum Glück noch) nicht sehen kann, weiß ich auch noch nicht, was mir gleich in den nächsten 3 Stunden bevorsteht.

Ich kurbele - immer noch recht flott - den Berg hinauf. Und dann lese ich sie, die Botschaft vom kanadischen Verkehrsministerium, die meinen ganzen Tag bestimmen wird: "Construction ahead - next 68 km".

Ach schön, denke ich. Und denke mir eigentlich nichts dabei, denn noch sieht hier nichts nach Construction aus: Der Highway kehrt wieder auf das Bodenniveau zurück, alles fein, links und rechts Wald und es geht kerzengerade geradeaus. So vergesse ich das dumme Schild und trete rein - 28 bis 32 km/h erreicht die voll beladene Speedmachine nun im Schnitt, und ich freue mich, dass diese zweite Etappe so schnell vorankommt.

Wo ist nur die Baustelle?

Noch halte ich Ausschau nach der ominösen Baustelle, denn dann und wann künden immer neue Schilder von anstehenden Fahrbahnverengungen und Staugefahr. Doch was sich sehe, ist Wald. Links und rechts, Wald. Tiefer, dichter, grüner Wald.

Ich muss pinkeln. Und da bekomme ich ein Problem: Der Highway ist eingezäunt. Denn es warnen alle paar Kilometer (neben den Baustellenwarnungen) Schilder vor "gefährlichen Wildtieren" abseits der Strecke. Man solle am besten nicht einmal anhalten und wenn, dann Krach machen und sich niemals zu weit vom Auto wegbewegen.

You are in a Bear Country - steht dann da immer.

Hier leben also Bären. Denke ich mir und versuche immer wieder durch das Dickicht abseits der Straße zu blicken um ein Foto von einem dieser seltenen Geschöpfe zu bekommen. Vergeblich.

Und nun also dieser Zaun. Neben dem Highway hat man rund 20 Meter Wald abgeholzt, das Gras ist gemäht (wer bitte mäht 1.000 Kilometer Grasstreifen?!?) und dann kommt ein etwa 2 Meter hoher, grobmaschiger aber starker Zaun.

Anhalten und fernab jeglicher gieriger Truckeraugen Wasserlassen? Fehlanzeige.

Keine Chance auf "Mal eben im Wald verschwinden" - eingezäunt und abgeriegelt. Der Highway ist von der Wildnis ausgesperrt. Oder anders herum?

Und so muss ich wohl oder übel auf den nächsten Rastplatz warten. Dort finden sich im Allgemeinen Plumpsklos (erstaunlich sauber!) und ein paar Bänke zum Ausspannen. Aber da dieses Land kein "Land" im europäischen Sinne, sondern ein ganzer halber Kontinent ist, ist hier halt alles ein bisschen größer - so auch die Abstände zwischen den Rastplätzen.

Und wenn ich den Baustellenhinweisen Glauben schenken darf, wird wahrscheinlich die nächste Rastmöglichkeit - eine Baustelle sein. Ach schön, denke ich, verdrücke mir die Gedanken an den Luxus einer leeren Blase und treibe das Liegerad behenden Schrittes durch die Highway-Schneise im dichten Wald.

Ich fahre mittlerweile fast 50 Kilometer und habe dabei doch das Gefühl, erst 3 Kurven gehabt zu haben. Unglaublich gerade ziehlt sich der Highway hier durch die Wildnis. Dann und wann komme ich an Schneisen vorbei, dann kann ich hinter wenigen Reihen Pinien einen Fluss erkennen, der neben mir mit ziemlich hoher Geschwindigkeit daherfließt. Tooll zum Raften, denke ich, und freue mich auf meine Rafting-Tour, sie ich übermorgen in Revelstoke gebucht habe.

Später kommt der Fluss ganz nah an die Straße heran, fließt ein paar hundert Meter direkt neben mir. Frisches, glitzerndes Wasser, sonderbarer Kontrast zu meinem schweißnassen Körper, sehnsuchtsvoll blicke ich in die Frische und komme mir ausgesperrt vor. Abgeschlossen. Ausgeschlossen. Du kommst hier net rein!

Hinter dem Zaun. Dort ist das Paradies. Die Erholung. Ich aber fahre auf Asphalt, der vor Hitze nur so flirrt. Und dabei muss ich mir immer ins Gedächtnis zurückrufen, dass dieser Zaun mich beschützt, nicht mich einschließt. Na, als Ossi hat man eben eine ganz besondere Beziehung zu Zäunen ...

Postkartenmotive alle Kilometer - wie gemalte, perfekte Kanada-Kulisse.

Die Sonne steht mittlerweile hoch am Himmel. Der Bodennebel, den ich noch heute früh in Banff so gern angeschaut habe, ist komplett verschwunden. Dafür tanzen Irrlichter auf dem Kicking Horse, dem Fluss, in den ich jetzt so gern springen wollte. Der an einem Ufer fließt, das wie gemalt ist, wie aus einem perfekt gestyltem Film.

Hier jetzt liegen. Auf einer Decke. In die Sonne blinzeln, die Füße im kalten Nass des Flusses. Kein Staub, keine Diesel-PickUps. Nur eine rot-weiß-karierte Decke, ein kühles Blondes in der einen und eine kühle Blonde in der anderen Hand.

Ich träume. Träume mich an den Fluss.
Träume mich auf die Berge, die gar nicht fernab ihre schroffen Gripfel unwirklich ins Blau stecken.

Ich muss mich zusammenreißen, denn bei dieser Trance-Fahrt, so monoton und gleichförmig (ohne langweilig zu sein), trete ich mich in einen Rhythmus, der fast unterbewusst abläuft. Dabei brennt die Sonne heiß und ich muss Unmengen Salze und Vitalstoffe ausschwitze, kalkuliere ich.

Immer noch kann ich Durchschnittsgeschwindigkeiten um die 28, 29 km/h halten, was für ein beladenes Tourenrad wie das meine wirklich hoch ist. Ich bin nicht außer Atem, alles geht smooth und ohne Probleme. Nur ich muss mich zwingen, zu trinken!

Und das fällt mir gar nicht so leicht: Zum einen weiß ich nicht, wie man sich regelmäßig bewusst aus einer Trance aufweckt. Zum anderen hat die Sonne meine Apfelsaftschorle sowohl in der immer griffbereiten Trinkflasche an meinen Seitentaschen als auch in den großen Nachfüllflaschen, die ich in den Taschen habe, mittlerweile dermaßen aufgeheizt, dass ich das Gefühle habe, an einer englische Teestunde mit frisch Aufgebrühtem teilzunehmen, anstelle mich zu erfrischen und abzukühlen.

Da oben, da ist es schön kühl - unten auf dem Highway schwitze ich mich trocken.

Wie willkommen ist mir da jeder kühle Windstoß, der ab und zu von den Bergen weht! Dann halte ich meine Nase in die Windrichtung, schiebe das Trikot hoch, mache mich bauchfrei und versuche, ein bisschen Luftzug auf meine nasse Haut zu bekommen.

Was mein Pinkel-Problem allerdings auch nicht löst. Sicher, ich könnte mich jederzeit an den Zaun stellen und Wasser lassen. Habe hier unterwegs schon drei, vier Leute pinkeln sehen. Es scheint zwar verboten - öffentliches Ärgernis oder so - aber hier draußen stört das keinen.

Aber ... ich kann doch nicht, wenn Leute zuschauen!

Mein Helm, das bunte Trikot und nicht zuletzt die Speedmachine leuchten so hell, dass man mich bei diesen geraden Strecken schon von 5 Kilometern Entfernung sehen kann. Da könnte ich den Autofahrern (und Truckern, yeah!) meinen Schniedel ja gleich vor die Nase halten!
Nein, denke ich, so exhibitionistisch bin ich dann auch nicht drauf. Und zwinge mich, trotz absolut 100%igem Füllstands, weiter zu trinken. Und weiter zu fahren.

Bei jeder Umdrehung habe ich nun das Gefühl, meine Oberschenkel stoßen an einen prall aufgepumpten Luftballon - der meine Blase ist. Herrlich!

Ich versuche, mich abzulenken, mit den grandiosen Ausblicken, die ich auf den Kicking Horse, die Wälder und die Bergkulisse habe darf. Diese Ruhe hier. Diese Abgeschiedenheit. Weites Land, das dennoch klein tut. Begrenzt durch die Berge, entsteht das Gefühl, in einem Wohnzimmer zu sein.

Irgendwie dann doch heimelig, beschützt. Es ist komisch, denn ich befinde mich in einem der leersten Länder der Welt - und fühle mich doch, als säße ich Zuhause auf meiner Ledercouch. Alles so vertraut, so ungefährlich, so bekannt.

Was täuscht, denn dieses Tal ist riesig. Endlos. Ich rufe mir die Kartenausdrucke von Google ins Gedächtnis. Wald, Wald, Wald, nichts als Wald. Und in der Mitte der Fluss.

"Protect Nature - Our Heritage!" steht auf den Schildern, die auf "Salmon Area" hinweisen, wenn eine Brücke mal wieder über den Fluss führt. Schade, denke ich, dass keine Lachssaison ist. Ich hätte zu gern Bären gesehen, die in einem vor Fisch nur so kochenden Fluss ihr Mittagessen reißen.

Oder ist das auch nur so ein Klischee aus Discovery Channel-Dokus, das es heute gar nicht mehr gibt?

Plötzlich, wie aus einem Traum gerissen, beginnt die Baustelle.

Links neben mir wird Wald abgeholzt um Platz für den Ausbau einer zweiten Fahrbahn zu schaffen.

Der Highway - bis jetzt komfortable 2 Fahrbahnen für die Autos, eine Fahrbahn als Seitenstreifen für mich und das alles für beide Fahrtrichtungen und durch einen riesigen, breiten Mittelstreifen von einander getrennt, wird nun auf eine Fahrbahn - also eine ganz normale Straße mit einer Bahn für jede Fahrtrichtung - verengt.

Mein Seitenstreifen wird schmaler. Was nicht weiter wild wäre. Wenn da nicht diese Steine wären. Wo bisher vielleicht ein Steinchen alle 5 Meter herumlag, es sofort zu sehen und deshalb leicht zu umfahren war, liegen nun hunderte. Hunderte Kiesel. Manche rund, manche fies und spitz. Ausweichen unmöglich. Der Platten ist vorprogrammiert, denke ich, denn bei diesem holprigen Cross-Fahren ist es eine Frage der Zeit, bis ich mit meinen prall gefüllten Marathon Racers den einen Stein erwische, der mit seiner fiesen, spitzen Seite genau nach oben zeigt.

Und dann ... Puff. Schlauch wechseln.

Ich habe Ersatzschläche dabei, keine Frage. Und Flickzeug, klaro. Aber wie gesagt - ich konsumiere Liegerad, ich baue es nicht. Ich bin Speedmachine-Pilot, nicht ihr Mechaniker. Also, Schlauch wechseln (und alles andere, was mehr als Schrauben-Nachziehen ist) muss nicht sein.

Dies scheint also der alte Trans Canada-Highway zu sein. Eine stinknormale Straße. Plain and Simple. Neben mir reißen riesige Bagger, bewaffnet mit martialischen Erdwerkzeugen den Boden auf, Fällen Bäume, zersägen sie in halndliche Stücke, reißen riesenhafte, bestimmt einhundert Jahre alte Wurzeln aus dem orangefarbigen Boden, planieren, verdichten, versiegeln die Erde. Es riecht nach ihr. Aber es riecht nicht gut. Hier stirbt gerade Natur.

Für eine große Straße.

Für die Straße, die ich so toll finde. Mit einem breiten Seitenstreifen. Mit spiegelglattem Asphalt. Nivelliert. Bequem. Schnell. Easy.

Ich rieche Abgase. Höre Pressluft. Und finde es abscheulich. So sind wir Menschen, denke ich. Lieben die Natur. Aber vergessen allzu oft den Preis, den sie zahlen muss. Wobei ich mir sicher bin, schiebt sich ein Gedanke noch durchs Hirn, dass wir alle - vielleicht demnächst - den unseren Preis dafür bezahlen müssen. Und ich fürchte, dass sich die Natur dafür was richtig Schickes ausgedacht hat ...

Und dann muss ich nun aber wirklich dringend pinkeln.

Da, durch die Bauarbeiten in die Absperrung gerissen, entdecke ich eine Lücke im Zaun. Sogar ein asphaltierter, kleiner Weg führt vom Highway ab. Ich zögere nicht lange, bremse, biege ab und ignoriere das Schild "No trespassing - except Construction Vehicles".

Eine Kurve später - ich bin mitten im Wald, den Highway und die Baumaschinenarmee höre ich nur mehr als Flüstern, stehe ich an einer Pinie und pinkle. Pinkle. Pinkle. 2 Minuten lang, habe ich das Gefühl, es hört nie wieder auf. Ich mache alles leer. Wo hat mein Körper das alles nur eingelagert?

Dann, endlich erleichtert, 20 Liter später (der Baum ist heute bestimmt entweder abgestorben oder doppelt so hoch, wie alle anderen) sitze ich im Gras am Rande des Forstweges und esse eine Banane. Blut schießt mir durch die Waden. Die Nerven senden Impulse, als würden die Beine noch treten. Ich schaue an ihnen hinab - sie ruhen.

Ein schönes Gefühl. Sonnenstrahlen fallen gebrochen durch die frischen grünen Tannenzweige. Es riecht nach Natur.

Da kommt ein PickUp. "Forest Ranger" steht da drauf. Ein amerikanisches Wappen. Der Truck hält genau vor mir. Oh oh, denke ich. Anschiss. Eine Frau steigt aus. Blond, Mitte 30. Zopf, Uniform. Sie lächelt mich an. Grinst. Ich grinse zurück.

"Wir haben hier in der Gegend zwei nicht markierte Bären geortet. Vielleicht ist es besser, wenn Du losfährst." sagt sie und lächelt nett.
Und da sie so lieb aussieht, grinse ich sie an, zücke meine Cam und meine: "Oh, dann sehe ich endlich mal ein Bärchen!" und freue mich.

Da wird sie ernst. Mimik versteinert, sie baut sich vor mir auf, setzt ihr "Du dummer Touri hast ja man gar keine Ahnung, was Dir blüht!"-Gesicht auf und sagt, lauter, eindringlicher, dass ich einem schwarzen Grizzly unter keinen Umständen begegnen möchte.

Und ich schaue dumm aus der Wäsche. Verspreche, nur schnell meinen Müsliriegel zu essen und dann auch gleich abzufahren.

"It´s your choice", sagt sie nur. Ach schön. Ich fahre dann mal los. Lieber. Gleich. Jetzt.

Hier endet der Glacier Highway und teilt sich in den Icefields auf, der weit nach Norden geht. Dort, wo Schnee liegt und die Berge noch höher sind. Ohne mich, leider.

Einen kleinen Schrecken im Nacken - und irgendwie aber auch belustigt, trete ich rein. Nun kann ich ja wieder, denn der Riegel gibt mir Energie. Wind im Helm, Schweiß darunter. Ein Film ölige Feuchtigkeit glänzt auf meinen Waden, die immer brauner werden.

Das Fahren auf dem Baustellen-Seitenstreifen nervt. Ich habe Angst um meine Schläuche, konzentriere mich immer mehr darauf, so vielen Steinchen wie möglich auszuweichen und ertappe mich dabei, wie ich hierüber vergesse, mir die Landschaft anzusehen, durch die ich mich hier treibe.

Plötzlich hebt der Highway an, es geht aufwärts. Ich muss mächtig reintreten, fahre um eine Linkskurve und plötzlich - ein Geschenk! Wieder zweispurig. Ah, herrlich, rede ich mit mir selbst, wie wunderbar, wie großartig! Die Autos in Gegenrichtung sind wieder in ihrem Bereich, die Autos in meiner Richtung wieder auf ihren Fahrbahnen und ich, ich bekomme wieder meinen breiten Seitenstreifen ohne Massenansammlungen Bauschutt, durch den ich manövrieren muss.

Dann lege ich mich in eine Rechtskurve, es geht bergan und die nächste Prüfung naht. Ahne ich. Und werde bald Recht behalten.

Zunächst aber passiert nichts. Die Natur lullt mich wieder ein. Gaukelt Perfektion vor. Nein, Speedmaschinist, hier kommt nix Schlimmes mehr, mach Dir keine Sorgen. Mach lieber noch ein Foto.

Ich sehe mich wieder durch ein weites Tal gleiten, die Berge sind etwas auf Abstand gegangen, aber immer noch groß. Großartig. Weit entfernte Wände aus Stein, fast senkrecht, ein Traum für Kletterer, denke ich, für Base-Jumper und anderweitig Verrückte. Ach ja, ich fahre hier allein durch die Rockies, auf einem Drahtesel, merke ich auf einmal und darf mich deshalb getrost auch selbst zu der Kategorie dieser "Verrückten" zählen.

Ich erreiche Lake Louise, Scheitelpunkt meiner heutigen Etappe und Scheideweg für Kanada-Reisende. Denn hier entscheidet sich, die man die Tour weiterfahren will - soll es die schroffe Unberührtheit wirklich wilder und abgelegener, vielleicht etwas brutalerer aber sicher kälterer Kanada-Kulisse sein, oder eher die südlichere, "wärmere" Variante?

Dann sehe ich das Schild, an dem man sich entscheiden muss. Jasper - steht da. Jasper via Icefields Parkway. Oder Golden. Golden weiter auf dem Highway 1, dem Trans Canada-Highway.

Wohin ich fahre, ist klar. Das stand schon fest, bevor ich das Flugticket gekauft hatte. Ich werde dem Highway 1 weiter folgen. Golden ist das Ziel. Geht auch gar nicht anders.
Aber ich wünschte, ich könnte jetzt nach rechts abbiegen, auf den etwas älter aussehenden, weit weniger breiten aber mit Sicherheit uum Längen aufregeneren Icefields Parkway.

Ich wünschte ich könnte, denke ich, versuche noch, so lange wie möglich nach rechts wenigstens mit den Augen dem Icefields zu folgen, bis dieser hinter Bäumen verschwindet.

Kleiner Mann mit großen Augen - Kanada überwältigt!

Geradeaus also. Nicht ins 220 km entfernte Jasper. Die Stadt, um die herum sich der weltberühmte und überwältigende Jasper National Park gruppiert. Der vom Icefields durchzogen wird, magischer Name, magischer als Trans Canada-Highway, denn hier oben, hier ist das Wetter so unberechenbar, hier ist Abenteuer. Hier ist nichts sicher.

Ich aber muss weiter nach Westen. Abstecher nach Norden sind in 3 Wochen leider nicht machbar. Aber, so denke ich mir, dann habe ich wenigstens einen Grund, hierher zurück zu kehren. Vielleicht, spinne ich weiter, wenn ich auf meiner Weltumrundung über Alaska wieder durch Kanada komme, vielleicht werde ich dann auch endlich Jasper, den Park und die Icefields sehen.

Aber was ich hier nun sehe, ist auch nicht von schlechten Eltern, denke ich. Denn nun geht es hier richtig los - die wirklich großen Berge kommen.

Der Highway verläuft ganz nah am Kicking Horse, beide zwängen sich durch eine enge Öffnung zwischen zwei Bergen hindurch, eher sich das Tal wieder richtig breit macht - und aus dem blauen Fluss ein überbreiter, riesiger und dadurch leer wirkender, träger Strom in einem viel zu großen Flussbett wird.

Es wirkt wie auf dem Mars: Hier scheinen früher Wassermassen mit hoher Geschwindigkeit geflossen zu sein. Heute jedoch plätschert ein Wässerchen friedlich durchs leere Flussbett um blank geputztes Geröll herum.

Das fast leere, aber massig breite Flussbett des Kicking Horse - hier mal die Schneeschmelze zu erleben, muss Wahnsinn sein.

Aber dann wiederum stelle ich mir vor, wie es hier im Winter sein muss, oder besser, im Frühling, wenn in den Bergen Millionen Tonnen Schnee schmelzen, wenn es regnet, statt schneit, wenn das ganze Land mit seinen hunderten kleinerer Flüsse diese Ableger in diesen, einen Strom leitet - dann wird hier die Hölle los sein. Ein reißender, kalter Fluss, spitze Eisschollen und eine unbändige Kraft - eben jene, die aus eckigen Felsbruchstücken jene runden Steinbälle geschliffen hat, die der kleine Kicking Horse in seiner fröhlichen Sommerfrische so marsianisch umspült.

Kaum vorzustellen, dass es hier einmal kalt werden könnte. Klirrekalt. Unter Null. Unter zehn, zwanzig Grad. Todestemperaturen. Mein Gehirn kann das schon gar nicht mehr verarbeiten - bekommt diesen Denk-Kontrast nicht visualisiert: Wie ich schwitzend mit kurzen Bikerhosen in meinem Liegerad fröhlich über kochend flirrenden Asphalt fliege - und in 7 Monaten an selber Stelle Eis, Schnee und Frost herrschen könnten.

Ich gebe mich statt dessen am fast leeren Flussbett entlang, dann und wann von Trucks und einigen PickUps überholt und versuche, die Gerüche zu erfassen.

Um die Wälder, die sich, wegen der großen Entfernung optisch zu Moosbewuchs verkleinert, an den Berghängen bis zur Baumgrenze hinziehen, riechen zu können, bin ich zu weit weg. Aber ich erahne ihren Geruch. Frisches Harz, feuchter Schatten. Ich trinke, um Kälte zu simulieren, spüle meinen Mund aber nur mit 25 Grad heißer Apfelschorle.

Wieder so ein Gedankenkontrast: Ich träume von Kaltem und muss Heißes ertragen.

Das Tal muss hier gut und gerne seine 15, 20 Kilometer messen. Wahnsinn - nicht eine kleines Dörfchen, nicht einmal eine Hütte, nicht ein einziges Ding, das an Menschen erinnern würde - außer dem Highway.

15 Kilometer, das ist im dicht besiedelten Deutschland maximale Distanz, die ich zwischen bewohnten Siedlungen leer vorfinden kann. Allenthalben Dörfer, Städte, Höfe. Hier draußen aber fahre ich schon seit 3 Stunden durch Wildnis. Lake Louise, die erste menschliche Siedlung seit Dutzenden Kilometern.

Das ist Größe, denke ich, wahre Größe. Das ist Platz. Raum.
Aber auch Einsamkeit. Verlorenheit.

Wie ich so zwischen den Riesenbergen herumkurve, mich Tritt um Tritt entlang der scheinbar endlosen Sphaltschlange bewege, schrumpfe ich. Schrumpfe ich zu einem kleinen Käfer, einer Ameise. Einem unwichtigen, kleinen Ding. Ein Ding, das seine Gedanken und Träume hat, das eine ganze Welt in sich trägt - das aber angesichts dieser erhabenen Größe, dieser Unantastbarkeit zu einem klitzekleinen, unwirklichen Körnchen verschwimmt.
Unwichtig.
Unbedeutend.

Klein eben.

Pause - in sattem Grün. Aber nur kurz. Irgend etwas treibt mich an ...

Zeit für eine weitere Pause, denke ich, nachdem ich die Spiral Tunnels passiert habe. Ein Wunderwerk der Technik: Von 1884 bis 1909 haben hier geniale Ingenieure zwei riesige Spiralen in den Fels gesprengt. So konnten von nun ab die wertvollen Güterzüge mit bequemen 2,2% auf einem Viertel der Strecke, die man sonst hätte mühsam in die Berge nivellieren und aufschütten hätte müssen, nach unten gelangen.


Rail Spirals auf einer größeren Karte anzeigen

Der Clou an der ganzen Geschichte ist, dass, wenn ein Zug oben in den ersten Tunnel einfährt, er unten hinter dem Eingang wieder rauskommt, gegenüber wieder im Berg verschwindet - um dann noch weiter darunter erneut etwas hinter dem Eingang wieder herauszukommen. Bei den endlosen Zügen, die man hier verwendet, ein grandioser Anblick.

Aber als ich da bin, kommt kein Zug. Lediglich ein Bus mit lauter lauten Sachsen hält, die die Plumpsklos überfallen und, weil sie glauben, ich verstünde sie nicht, sich über mein Fahrrad unterhalten.

Ich esse meine Banane auf und fahre weiter - und stürze mich in die erste richtig atemberaubende Abfahrt dieser Tour. Knapp 70 Sachen erreiche ich und fühle mich nach rund 5 Kilometern rasanter Abfahrt zum ersten Mal an diesem Tage so richtig erfrischt. Aber auch fertig, was mich zur Pause bringt, die ich - und hier kommt endlich einmal ein Rastplatz - an einem Creek des Kicking Horse verbringe.

Noch eine Pause. Diesmal aber richtig!

Ich stelle die Speedmachine am Ufer ab, laufe einige Minuten herum, unten am Ufer tobt ein Golden Retriever mit einem Mädchen, zwei, drei Vans mit Familien picknicken hier. Ansonsten ist es ruhig.

Golden Retriever.
Golden.
Golden, mein Ziel für heute. Wie goldig wird es da werden?

Türkisfarbig fließt der Horse hier, sauerstoffreich, vermute ich. Oder kalkhaltig. Oder sonstwas. Mir ist egal, was drinschwimmt - ich ziehe meinen Helm ab und tauche mein Gesicht in kaltes, sehr kaltes Wasser, das ich mit den Händen aus dem schnell fließenden Fluss schöpfe.

Dann sitze ich dort neben meiner Maschine. Sitze einfach auf dem Boden, entspanne mich, blinzle in die Sonne und schaue zwei Herren neben mir beim Schach zu. Fernab rauscht der Highway, von oben aus den Bergen dröhnt das Horn einer Lok. Und ich stelle mir vor, wie der stählerne Lindwurm sich gerade durch den Berg schlängelt, geradeso wie sein glibschiger Verwandter durch einen Apfel.

Dann muss ich aber auch schon weiter - 80 Kilometer habe ich noch vor mir, sagt mein Google-Ausdruck. Und das Beste - er sagt, dass diese nur noch bergab gehen würden. Ich zögere, ihm zu glauben, aber ich hoffe, dass Google Recht hat: Wenn noch ein paar Abfahrten wie die gerade vom Kicking Horse-Pass kommen, dann wäre das groß. Einfach groß.

Und so schwinge ich mich voller Enthusiasmus in meine Speedmachine, fahre los. Und bleibe hinter der nächsten Kurve im Berg stecken.
Steigung will ich das nicht nennen. Ich nenne es mal ... Wand.

Als ich diese beschwerlich erklommen und mich ein wenig bei einer bescheidenen Abfahrt erholen kann, steht da auch schon gleich der nächste Anstieg für mich bereit.

Ach herrlich, nur bergab wäre ja auch langweilig gewesen.

Nicht sehr lang sind diese Rampen. Und auch nicht wirklich steil, denke ich. Aber fies sind sie!

Und zu allem Überfluss kommen die Baustellen wieder. Dieses Mal aber mit einer neuen Spielart. Zunächst stehen alle 2 bis 3 km Warnschilder á la: "Highway 1 is closed 12 a.m. to 3 p.m. due to daily Blasting Operations." Ach schön, denke ich mir, dann sprengen die hier täglich und ich muss dann noch bis 15 Uhr warten?

Gesprengt wird allerdings nicht. Die Schilder kommen und kommen immer wieder, aber ich sehe nirgendwo eine Sperrung. Vielleicht, so schießt es mir durch den Kopf, wird die Sperrung dann genau 2 km vor Golden sein, sodass ich mein B&B sehen, es aber nicht erreichen kann. Das würde doch mal abwechslungsreich sein ... denke ich noch, als auf einmal die Straße nach unten kippt.

Regelrecht senkrecht geht es auf einmal los. Ich bin gar nicht vorbereitet - das Rad surrt los, ich umschiffe noch ein paar Kieselsteine, dann habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, Geschwindigkeit zu machen, nehme die Finger von den Bremsen und ab geht es. Links und rechts türmen sich senkrechte Felswände auf, das Rad bebt, wackelt, Wind zerrt an den Radtaschen, Autos haben wieder Mühe, mich zu überholen.

65, 70 km/h - ich schieße in eine Linkskurve, soll ich bremsen? Ach, nö, denke ich, sehe dann aber wenige dutzend Meter vor mit die Anschlusskante, wo die normale Fahrbahn in eine Brücke übergeht, und da ich weiß, dass die kanadischen Straßenbauer hier gern mal 20 cm offen lassen, gehe ich in die Bremsen. Das Rad rumort, es quält sich, es scheint, als wolle es gar nicht langsamer werden. Merklich verzögern meine hydraulischen Maguras den Ritt, ich fliege über den holperigen Stahlübergang, 45 km/h, trete ein paar mal, dann folgt das Ende der Brücke, dann eine Rechtskurve und wieder klappt die Straße nach unten ab.

65, 70, 71 km/h - ich kann schon gar nicht mehr den Steinen ausweichen, versuche jetzt nur noch, Spur zu halten und wenigstens den großen auszuweichen. Dann wieder eine Linkskurve, ich schaue nach rechts, runter, neben dem dem Highway geht es steil fast im 90-Grad-Winkel nach unten. Grandios, gefährlich sieht das aus. Wind knallt in meinen Ohren, ich muss schlucken, denn ich reiße die Höhenmeter hier nur so herunter.

Dann steuert die Straße mitten auf einen Felsen zu. 100 Meter breit, wie der Zuckerhut in Rio geformt und rund 200 Meter hoch. Der Highway geht genau darauf zu, knickt noch einmal etwas ab, sodas die Speedmachine spürbar an Geschwindigkeit zulegt - und ich sehe, dass die Straßenbauer hier eine Schneise in den Zuckerhut geschnitten haben. Wie in einer Torte. EInfach ein Stück rausgenommen. Keinen Tunnel gegraben - nein, eine Schneise geschnitten. Riesenstück Steintorte.

Von oben bis unten. Vom Zuckerhut zur Kardinalsmütze, denke ich, konzentriere mich, denn die Fahrbahn wird verengt und schon schieße ich - einen Porsche neben mir - durch den klerikalen Felsen.

Wow, schießt es mir durch den Kopf, angesichts der senkrechten Schnitte, die schroff neben mir wie überdimensionales Schleifpapier vorbeifliegen. Mit über 70 Sachen kommen wier auf der anderen Seite hinaus, ich lege mich in einer Rechtskurve - und dann sehe ich sie.
Die Steigung.

Kurz vor dem Ziel: 4 fiese Steigungen der Kategorie "Arschaufreißen".

Ausrollen lassen. Mehr kann ich da nicht. Ausrollen, vielleicht noch etwas trinken. Sich klar machen - mental. Denn das da vorn sieht noch harmlos ist, ist aber eine Rampe, die mir den Saft aus den Beinen ziehen wird, das sehe ich von hier aus schon.

Und hinzu die Hitze, die jetzt, am frühen Nachmittag, am größten ist. Sie wird mir das Hirn zum kochen bringen.Wir sonderbare Dinge mit mir treiben, mir böse Gedanken versuchen, einzupflanzen, wird mich brechen wollen, mich einlullen. Aber nicht mit mir! Nicht heute - nicht 20 km vor dem Ziel! Nicht mit dem Speedmaschinisten!

Denke ich so, rolle aus, das Rad nimmt seine Nase hoch - es geht aufwärts, denke ich noch, schalte herunter, mache mich ganz klein auf dem Seitenstreifen und dann trete ich los. 10 km/h, dritter Gang Rohloff auf dem großen Blatt. Na denn, denke ich.

7 km/h. Jetzt wirds lustig.

So kurbele ich hinauf. Meter um meter. Schwitzend, tropfend. Ich schaue nach links, wo grüne Bäume ein weites, tief geschnittenes Tal bewachsen, schaue zum Horizont, egal wohin, Hauptsache nicht nach vorn, wo ich über mir - weit, weit weg - das Ende der Steigung sehen kann. Tausende schwerfälliger Umdrehungen entfernt.

Es brennt. Es brennt von oben unerbittliche Sonnenstrahlen, es brennt von unten, eine wabernde Hitze, die aus allen Poren des kochenden Asphalts gekrochen kommt, es brennt von Innen, wo siedend heißes Blut an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit durch meine Adern schießt und versucht, Sauerstoff zu den Muskelsträngen zu bringen.

Ich trinke, ich esse einen Riegel - atemlos, denn anhalten kommt nicht in Frage. Ich kurbele und kurbele. Trucks hinterlassen lange Staubschleppen, die mir die Sicht nehmen und meine Lungen verkleben, Autos schießen vorbei.
Ich beneide sie.

Oder auch nicht. Eigentlich freue ich mich. Ich erlebe hier etwas, was diese Dosenfahrer nie erleben werden. Ich erobere mir ihr Land. Ich bezwinge ihre Berge, Berge, über die sie bestimmt schon hundert mal gefahren sind, die sie aber nie richtig kennen gelernt haben.
Ha, ihr bequemen Blechbüchsenkommandanten - ich bin es, der Euer Land erobert, ja! Schaut ruhig noch einmal in den Rückspiegel und prägt es euch ein, dieses Gesicht.

Ein Gesicht, das ich vor Schmerz verzerre, denn als ich endlich oben bin, der Rechtskurve, die man in den Berg gefräst hat, folge, sehe ich die nächste Steigung, geradeaus hoch, vielleicht 4, 5 Kilometer, dann eine Linkskurve, die ich auch sehen kann, nochmal hoch, vielleicht auch noch einmal 3 oder 4 Kilometer. Und das Sahnehäubchen: Baustelle!

Steigung, Hitze und Baustelle - heute werde ich hier also so richtg in den Arsch getreten! Steile Berge, die eng stehen, keine weiten Täler mehr, wer weiß, denke ich, wie es da unten aussieht. Und schon komme ich in den Baustellenbereich. Arme Schweine! Arbeiter mit freien Oberkörpern - nass geschwitzt - freuen sich über mich, winken, grüßen, rufen: Endlich einer, der sich auch in dieser Affenhitze abmühen muss!

Dicker Schlamm bedeckt nun den Highway, vor mir, auf der Gegenfahrbahn, kommt ein Sprühfahrzeug, das den Asphalt mit Wasser befeuchtet. Staub soll gebunden werden - eine Klasse Idee, denke ich, aber auch eine Sauerei. Denn der Steub verbindet sich so mit dem Wasser zu einem hellbraunen, feinen Schlamm, der allenthalben von Autoreifen verspritzt wird - und dann auf mir landet. Wenn mich Trucks überholen, ist es besonders schlimm: Ich sehe aus, als habe ich meinen Kopf zu tief ins Elefantengehege gehalten, wo die Mutterkuh gerade an Durchfall leidet.

Nun also Slalom um Absperrhütchen, Bagger und Schlammpfützen, das alles bei einer deftigen Steigung bei rußigem Dieselgestank und Umlufthitze, bei der man eine Pizza garen könnte.

Eine halbe Stunde lang geht das so. Auch die "Ohhhh, wir sprengen hier jeden Tag zwischen 12 und 3"-Schilder kommen wieder. Ich lächle über sie - alter Hase eben.

Nur noch bis da hinten - dann hab ich es geschafft. Hoffe ich. Und wehe, wenn nicht!

Dann stehe ich oben. Auf einmal. Wie es immer bei Bergen ist. du mühst dich ab, bist fertig mit der Welt, schaust doch immer wieder nach oben, auf den Entfernungsmesser deines Bike-Computers, beginnst Turnübungen für dein Gehirn, indem du komische Berechnungen anstellst, wie viele km und wie lange denn noch diese Scheiße hier weitergehen soll, du beginnst, in Selbstgesprächen über die Sonne herzuziehen, meckerst mit Steinen, die dir im Weg liegen und rufst leise den Autofahrern hinterher, die, wenn sie dich überholen, extra langsam eine Weile neben dir herfahren und gaffen.

Du hast keinen Bock mehr. Bist mies drauf.

Und dann plötzlich oben. Gipfel. Abfahrt unter dir.

Ach schön, denke ich, steige ab und pinkle in den Abgrund. Egal, ob mich hier Autos sehen, egal, ob Trucker hupen. Ich stehe am Straßenrand und pinkle vom Highway. Ich pinkle auf die Spitze des Berges, auf den Gipfel der Tortur.

Mein Ritual, einen geschlagenen Berg zu feiern.

Lasse mich in den Sitz meiner Speedmachine gleiten und bin eigentlich viel zu erledigt, um hier auch nur noch eine Umdrehung zu fahren! Doch dann geht es los, hilft ja nix - nur noch diesen Berg umrunden, diesen einen Berg, denke ich, und dann muss doch endlich diese scharfe, steile Abfahrt kommen, die bei Google im Profil steht?!?

Wo ist sie denn? Wo denn? Scheißgoogle!

Und dann kommt sie. Yessa, denke ich noch, als sich die Nase senkt und der Wind mir eine scheuert, mich aufweckt, mich zur Konzentration ruft: Steubige Reifen, feuchte Bremsen, dazu 8, 9, 11 % abwärts und ein recht dichter Verkehr, der ebenso flott wie ich unterwegs ist. Nein, auf den letzten Kilometer will ich mich nicht hinlegen.

So schieße ich hinab nach Golden, das gar nicht goldig aussieht. Vor mir öffnet sich der schlitzige Canyon wieder ein ein weites, weites Tal. Golden, eine kleine Stadt, rechtwinklig, wie alles Nordamerikanische, mein Bed & Breakfast genau an der Hauptstraße.

Viele Radfahrer kommen mir grüßend entgegen, Rennradler, MTBler und Muttis. Da sehe ich es - Country Comfort Inn. Ich biege ab. Fahre die Rampe zur Auffahrt hoch, bremse, klinke meine Schuhe aus und stehe da.
Stehe einfach da und warte.

Bis das Blut in meinen Waden aufhört, zu kochen.

Das Country Comfort Inn - hier ist der Radler willkommen.

Da kommt dann auch schon Randell um die Ecke - Gärtnerschürze, grüne Gummistiefel, Strohhut auf dem Kopf und eine Heckenschere in der Hand. Er begrüßt mich aufs Herzlichste, lädt mich ein, erst einmal ins Haus zu kommen, bietet mir eine kalte Limonade an und zeigt mir mein Zimmer.

Herrlich, dieses Haus. Nicht sehr groß, so scheint es von außen, aber innen macht es die Raumaufteilung gewaltig. Die Bed & Breakfast-Gäste (ich bin der Einzige heute) logieren im Keller, der mehr als Souterrain zu bezeichnen ist. Von einem riesigen Kaminzimmer mit cosy Couches und einem breiten Flatscreen flankiert, gehen die Zimmer ab. Da ich wieder einen Spezialpreis ausgehandelt habe, lande ich im kleinsten Raum, was nicht weiter stört, denn ich bin ja eh nur hier zum Schlafen und zum Duschen.

Ich bezahle Randell, wir machen eine Frühstückszeit aus und ich kann mich endlich meiner verklebten Klamotten entledigen, um eine schöne lange Dusche zu nehmen. Eine wahre Wonne, kann ich nur sagen, als ich meinen Schenkeln und den Waden nach dem Duschen eine zünftige Eigenmassage mit Klosterfrau Franzbranntwein gönne.

Meine Speedmachine haben Randell und ich in die angrenzende Garage verfrachtet - das Haus wäre zu klein und die Tapeten zu neu - und so geselle ich mich zu meinem Rad, um es mit meinem Putz-Shirt wenigstens halbwegs vom verkrusteten Bauschlamm hoch aus den Bergen zu befreien - schließlich reist das Auge ja auch mit.

Dann will ich mir die Stadt anschauen - was ein hoch gegriffenes Ziel ist, denn Golden besteht aus nicht mehr als einem Bahnhof (dafür aber einem der Kategorie "Riesenhafter Güterbahnhof"), ein paar rechtwinklig angelegten Straßen und Avenues und einem "Centre", an dessen Hauptstraße ich ja wohne.

Supermarkt gleich gegegnüber, die drei Restaurants des Ortes auf 500 Meter neben mir verteilt. Naja. So kaufe ich halt ein - "Oh you´re from Germany? Great!" schallt mir wieder die freundliche Kassiererin entgegen, nachdem sie 2 Kunden vor mir schon ein "Oh, you´re from Holland? Great!" abgelassen hat.

Ich vermute, sie ist laut Arbeitsvertrag dazu verpflichtet.

Dann gönne ich mir einen schönen großen Teller Meeresfrüchtepasta, der sich als geschmackliche Enttäuschung entpuppt, mich dafür aber mit massig Protein und Kohlenhydraten versorgt. Na, wenigstens das. War ja auch ein bisschen zu optimistisch, hier inmitten von Bergen frische Meeresfrüchte zu erwarten.

Tja. Und dann geht schon die Sonne unter. Ich stehe da, sage dem gelben Ball Tschüs bis morgen und kann nichts weiter tun, als mich in meinen Keller zu begeben, noch eine Runde TV zu schauen (400 Kanäle durchzuschalten kann manchmal echt dauern!) und ... mich ins Bett zu legen.

Was für eine Etappe, rekapituliere ich: So harmlos, so flach als Talfahrt begonnen, und am Ende reißen mir die Rockies hier so richtig schön den Arsch auf! Ich schaue noch einmal auf den Google-Ausdruck und rufe mir die Bilder von heute ins Gedächtnis. Wow, waren das hohe Berge! Verdammt hohe Berge!


Gefahren: 147,30 km mit schmerzenden 2.170 Höhenmetern in 5:10 Stunden und einem wahnsinnigen 28,5 km/h Schnitt.

Ich blicke aus dem Fenster meines Zimmers und überlege, was ich noch machen könnte. Ich bin noch nicht müde. TV schauen im Kaminzimmer? Nein, dazu habe ich keine Lust. Lesen? Nur was?

Reden - reden wäre mal schön. Echte, echte Menschen, ein Gegenüber, das zuhören und antworten kann, ein Mensch, dem ich zuhören und antworten kann.


Aber ich entdecke nur zwei dicke Mädchen auf einem Öltank. Da gehe ich lieber schlafen.