A perfect Kneekiller

Tag 10: Kamloops - Merritt

Heute lasse ich es mir gut gehen. Heute mache ich mal kein Tempo, keinen Aufriss, heute, so habe ich gestern beim Einschlafen beschlossen, drängle ich mal nicht. Warum? Weil Joyce, die 120 Jahre alte Betreiberin des B&B mich mit ihren großen Augen gebeten hatte, dass ich sie vielleicht nicht allzu früh zum Frühstückmachen aufscheuchen würde und weil ich eine ... naja, eine nicht ganz so schlimme Etappe vor mir habe. Sagt Google: 102 Kilometer bei 1.170 Höhenmetern. Ahgeh, da gab es aber schon viel Schlimmeres!

Good Morning, Kamloops! Ein toller Tag. Noch.

Kamloops liegt denn dann auch in feinster Sommermorgensonne da, als ich aufstehe und mich tagesbereit mache, unten höre ich es schon in der Küche klappern - alles okay. Die Sachen sind schnell gepackt, ich bin bereit, steige die Treppe hinab und setze mich zu Martin und Joyce an den Tisch.

Joyce fragt, wo ich hin will. Merritt, antworte ich, und da staunt sie. "Wow!", macht auch Martin. Und da ich diese Gesichter schon kenne, schenke ich ihnen keine Bedeutung. Auch nicht, als Joyce mit Nachdruck meint, dass es direkt hinter Kamloops einen "großen Berg" gäbe, winke ich ab: Habe ich auf meinem Ausdruck schon gesehen - ein 20 Kilometer langer Aufstieg um 600 Höhenmeter. Na und? Da gabs schon Fieseres.

Mit Verweis auf den Rogers Pass danke ich für die Warnung und esse mein Müsli.

Minuten später stecke ich in sich senkrecht vor mir auftürmenden Asphalt.

Äh, ist das Ernst? Die Steigungen sind mörderisch, unmenschlich geradezu. Und das keine 500 Meter hinter dem B&B.

Es ist halb neun, die Sonne macht mir bereits zu schaffen, und ich bin noch keine 500 Meter gefahren, als ich meinen Augen nicht traue - über mir, fast wie eine senkrechte Wand, türmt sich eine Mauer aus Berg auf. Überwuchert von Kamloops, Häuser, abenteuerlich in die Steilheit gebaut, und, sich an der Vertikalen entlang hangelnd wie ein Freeclimber in den Abendnachrichten, die Rampen, die die Straße sind.

Ich komme kaum voran, bin jetzt schon im kleinsten Gang, mein Rücken schwimmt in Schweiß und Autofahrer, die mir entgegen kommen, grinsen mich an, manche haben den Daumen oben, andere wollen nicht wahrhaben, was sie da sehen: Ein Fahrrad? HIER?

Ich muss mich zusammen reißen und erreiche - auf dem schmalen Gehweg unsicher manövrierend - nach gerade einmal zwei Serpentinen einen Aussichtspunkt. Ich halte an, völlig außer Puste und rolle langsam an den Felsvorsprung. Eine junge Frau führt gerade ihren Schnufu Gassi, ich streichle ihn, sie bedauert mich, als ich ihr Antworte, dass ich "on my way up" bin und dann esse ich eine Banane und öffne mein erster Power-Gel - keine 20 Minuten nach Abfahrt. Und noch nicht einmal bei der Hälfte angekommen, wie ich sehen kann.

So sehr ich den Blick hinab auf Kamloops genieße (sind das nicht schon 600 Höhenmeter???) fühle ich, dass es heute ganz, ganz schwer werden wird.

Sieht so harmlos aus. Da unten, wo die Welt in Ordnung ist. Hier oben regiert jemand anderes: Der Schmerz.

Durchatmen, noch einen Schluck trinken, dann wieder einklinken, das Rad in die Steigung gedreht und los geht es. Noch immer bin ich inmitten von Kamloops, in Hanglage, der morgendliche Verkehr ist dicht, Abgas und Zigarettenqualm, wenn ich an Bushaltestellen vorbei komme, brennen schnell in den Lungen.

Schweiß steht mir in riesigen Perlen auf der Stirn. So trete ich im kleinsten Gang die Steigungen empor. Mal geht es rechts herum, mal links herum. Ich brate in der Sonne, quäle mich, quäle mich richtig und fühle den Frust in mir hochkriechen, den ich aber immer wieder gerade so unterdrücken kann - das schlimmste am Berg ist, wenn man Frust zulässt, denke ich, und beginne mein altes, portugiesisches Spiel, das mich dort schon so manche Verzweiflungs-Steigung hinaufgebracht hat: Shadow-Hopping.

Die enden nie! So darf man nicht denken. Darf so nicht denken! Und sich klar machen, dass sie wirklich nie enden, diese Steigungen.

Ich suche mir in nicht allzu weiter Entfernung eine Marke. Einen Baum etwa. Und dann sage ich mir - bis zu diesem Baum, diese 150 Meter, die machst du jetzt. Und die hälst du durch, bis dahin kurbelst du, und wenn du das geschafft hast, dann hälst du dort an, klinkst die Beine aus, atmest ruhig, gönnst deinen brennenden Muskeln etwas Entspannung. Und dann, nach ein, zwei Minuten, dann geht es weiter. Dann suchst du dir den nächsten Baum. Und hangelst dich wieder, diesmal vielleicht 200 Meter, dorthin. Bis du wieder den Schatten erreicht hast, dich wieder entspannen kannst.

Doch hier, hier oben, hoch über Stadt, der brennenden Sonne ausgesetzt, aber doch noch mitten im Stadtgebiet, hier gibt es gar keine Bäume am Straßenrand! Gibt es keinen Schatten. Da steht mal ein Mülleimer, mal ein Laternenmast. Ziele - sicher. Aber ohne Schatten.

Ich leide, ich kämpfe, ich atme, pumpe mich heiß, Wasser läuft an mir herab, schon habe ich einen kleinen See aus wertvoll salzigem Körperwasser in meinem Bauchnabel, schon schwimmen meine Hände in den vollgesogenen Polstern meiner Radhandschuhe. So leide ich mich den Berg hinauf. Auf das Plateau, von dem Joyce meinte, dass es, wenn man erst einmal oben angekommen sei, "ganz nett" werden würde.

Und tatsächlich, nachdem ich schockiert festgestellt habe, dass ich auf dem Abschnitt nach Merritt nicht den Trans Canada-Highway benutzen darf und den alten, den Highway 5A zu benutzen habe, erreiche ich irgendwann das "Oben".

Ich bin total fertig. Und ich meine nicht "geschafft", ich meine - ich bin durch. Bin am Ende. Kanns nicht fassen, als ich auf meinen Bike-Computer blicke und 18,5 Kilometer dort stehen.

Die letzte Kurve, dann bin ich oben!

18,5 Kilometer gefahren - und ich kann trotzdem noch, wenn ich mich umblicke, Kamloops erkennen. Luftlinie keine 5 Kilometer geschafft. Und dabei, ist das einzige, das geschafft ist - ich selbst.

Ich bin so fertig, dass ich mich direkt an den Straßenrand hocke, meinen schmerzenden Magen mit drei Power-Riegeln vollstopfe, schwer atmend eine halbe Flasche Schorle trinke und meine Beine massiere. Meine Güte, denke ich, das war härter als der Rogers Pass! Das war so richtig Scheiße, das war so richtig Scheiße! Scheiße nochmal!

Und wie lächerlich angeberisch komme ich mir im Nachhinein vor, als ich, Spacko wie ich bin, am Frühstückstisch die ehrlich gemeinten Ratschläge von Joyce, die immerhin seit 200 Jahren hier lebt und sich auskennt, abtue. Lächerlich.

Quittung erhalten, Danke. Denke ich, raffe mich auf, die letzten 90 Kilometer anzugehen. Jetzt, so wird mir klar, geht die Etappe erst richtig los. Jetzt, wo meine Speicher für diesen Tag leer sind.

Ein letzter Blick zurück - da unten im Kessel ist Kamloops - und vor mir die Prärie.

Ich blicke nach vorn und bemerke, dass sich die Landschaft schon wieder verändert hat. In ein hügeliges, aber sonderbar seicht anmutendes, dabei trockenes Gebiet, fast steppenartig, haben sich die Rockies hier verwandelt.

Oben auf dem Plateau bin ich nun und tatsächlich, wie Joyce es versprochen hatte, ist es wirklich "nice" hier. Das Wetter ist fantastisch heute - wo gestern noch drohende Regenwolken dunkel den Himmel zugehangen haben, zerreißt ein wohl kräftiger Wind in den oberen Luftschichten wenige Wolken zu lang gezogenen Strichen aus Wasserdampf. Die Sonne brät herunter, aber nun, da ich es ja auch nicht anders kann, als es langsam anzugehen, kann sie mich nicht mehr allzu hart treffen.

Tolles Postkartenwetter - mir allerdings zieht die Sonne das Flüssige nur so heraus.

Über mir kreist ein riesiger Adler. Ein majestätisches Tier, die Schwingen ausgebreitet, lässt er sich tragen von den heißen Luftmassen, die ihn ohne Mühe in den Lüften halten. Es ist halb Elf Uhr Mittags, eine Zeit, bei der ich normalerweise mindestens ein Drittel, wenn nicht schon die Hälfte der Etappe hinter mich gebracht habe.

So versuche ich, mich zu motivieren, doch etwas schneller zu treten. Zumal ich bemerke, dass das nächste Problem sich langsam aufmacht, diese Etappe zu verschlimmern: Es gibt Gegenwind. Noch ist er nicht schlimm, nicht böig, sondern mild und gleichmäßig. Ich kann immer noch eine 26, 27 km/h halten, und solange ich nicht unter 25 falle, ist alles im Lot.

Fern grüßen die Berge. Um mich herum ist es allerdings eher flach. Plateau halt.

Ich merke, dass dieser Highway 5A tatsächlich ein "old Highway" ist. Nicht, weil die Straße alt wäre, im Gegenteil: Toller, ebener und fast neuer Asphalt macht das Rollen zu einem Genuss, es gibt keine Schlaglöcher und ich komme super voran. Aber, und erst hier merke ich, wie gut ich es auf dem Highway 1, dem Trans Canada-Highway habe, diese Straße hier ist nicht nivelliert. Jeden Hügel, jede noch so kleine Erhebung machen wir mit.

So geht es rauf und runter. Immer wieder. Mal lang gezogen und kaum merklich, dann wieder sehr steil und giftig, dafür kurz. Die Abfahrten sind entsprechend: Entweder lang und kaum zu merken, oder schnell, aber dafür nur sehr kurz.

Das Nervige daran ist, dass ich so in keinen Rhythmus finden kann. Mal in hohen Gängen, dann wieder in ganz kleinen, mal Ausspannen, mal nicht. Dazu der Gegenwind, der gerade auf den langen Abfahrten ohne viel Gefälle den Bergagab-Effekt komplett zunichte macht. Das kostet Nerven. Aber noch reiße ich mich zusammen und genieße die Aussicht.

"An Empire of Grass" steht da an einem Infoschild für Touristen. Hier, so erzählt es weiter, sind die unermesslichen, nicht enden wollenden Weidegründe der Indianer und später die des Weißen Mannes gewesen und noch heute - wie sich später eindrucksvoll bewies - würde diese Region von Tausenden Rindern durchstreift.

Wie mag das hier nur früher mit wilden Büffelherden ausgesehen haben - und ohne Telefonkabel?

Die offene Graslandschaft hat ihre Reize - zum ersten mal seit Tagen habe ich wieder das Gefühl, Horzizont zu sehen. Zwar grüßen in der Ferne wieder hohe Gipfel, aber zuminest bin ich nicht mehr so umschlossen vom Fels.

Ich bin Hamburger, in Berlin aufgewachsen - ich bin Flachland gewöhnt. Ich brauche meinen weiten Himmel. Brauche viel, viel Himmel. Berge sind super, sehen toll und überwältigend aus, aber auf Dauer wäre das nichts, merke ich gerade, und während ich so überlege, schaue ich wie beiläufig auf meinen Bike-Computer ... und stutze: Eine Geschwindigkeit von 18 km/h steht da. Und plötzlich werde ich wach und merke ihn, merke ihn endlich bewusst, den Gegenwind.

Es ist eben hier. Kein Anstieg. Und doch komme ich nicht einmal an die 20 km/h heran. Nur mit Mühe kann ich meine 18, 19 halten. Es schmerzt in den Waden, ich habe zu kämpfen. Klar - Wind, der über weiter Prärie fegt, keine Berge, die ihn aufhalten.

Holland-Conditions.

Problem solved - next Problem ahead: Tschüs Steigung - hallo Gegenwind!

Wo ich sonst locker meine 32, 33 km/h machen könnte, trete ich hier nun gegen eine konstante Windwalze an, die mich nicht einmal die 20er-Marke erreichen lässt. Bedenklich aus zwei Gründen: Ich will ankommen, muss ankommen, schnell, schneller wenn es geht, denn ab Nachmittag ist hier windtechnisch Kirmes angesagt, in die ich nicht geraten möchte und zum anderen, weil mich 18 km/h unter diesen Bedingungen sogar noch mehr Energie kosten, als 30 km/h bei Windstille.

Langsam mache ich mir Sorgen.

Nur ein kurzer Lichtblick ist ein Schild, das vor einem elfprozentigen Gefälle warnt. Juchei, denke ich, und erinnere mich an 11% Anstieg am Rogers Pass, an die schnelle Abfahrt auf der anderen Seite, 55, 60 km/h, tolle Sache! Bin ich hier am Ende des Plateaus? Geht es dann da unten ganz normal, Rocky-mäßig weiter, geschützt von Bergen, nicht mehr so dem Wind ausgesetzt?

Ich halte kurz an, pinkle in das Tal unter mir und der Strahl wird seitlich von mir weggetragen vom Wind. Weg vom Tal. Zurück nach Kamloops. Gegenwind kann man das schon nicht mehr nennen, denke ich beim Abschütteln - das ist Sturm!

Na hossa, wenn schon die Truck vor der Abfahrt gewarnt werden, dann folgt jetzt hier gleich bestimmt ein Heidenspaß!

So stürze ich mich hoffnungsvoll in die Abfahrt.
Trete rein. Beschleunige. Trete und trete.
Und werde enttäuscht.

Steil, steil ist es. Und wie. Elf Prozent, enge Kurven, drei, vier Serpentinen die sie hier in den nackten Fels gefräst haben. Beste Voraussetzungen - und doch erreiche ich keine 40 km/h.
Das kann doch nicht wahr sein, brülle ich, stemme mich mit aller Macht in die Pedale, trete wie ein Irrer - und komme einfach nicht über 40 km/h.

Gegenwind. Scheiße! Scheiße und nochmals Scheiße brülle ich in die Böen. Ich hasse diese Kacketappe - so schreie ich mir die Wut aus der Seele, habe fast Tränen in den Augen und kann es nicht fassen, dass nach diesem beschissenen Anstieg von Kamloops, dieser harten, harten Prüfung, die ich so diszipliniert, so ruhig, so toll gemeistert habe, nun so was hier auf dem Programm steht!

Kann mich kaum besänftigen - die tolle Indianerlandschaft.

Nur schwer kann mich die schöne Landschaft von meiner Gram ablenken. Nur langsam komme ich runter. Es sind kleine, kleine seichte Berge, spärlich mit Pinien bewachsen, die in ihren flachen Tälern Seen und Tümpel aufstauen, die wie gemalt daliegen. Eisenbahnplatten-Natur, da ist sie wieder. Leere, unendliche Weite, ich allein auf weiter Flur, alle 20 Minuten mal ein einsamer PickUp, der schnell hinter dem nächsten Hügel verschwindet. Und ich inmitten von dem allen hier - die Schönheit neben mir - und dann die ganz brutale Realität in meinem Liegerad.

18 km/h, das ist die Richtgeschwindigkeit hier. Achtzehn km/h, denke ich, verdoppeln die Fahrtzeit, die ich sonst benötige. 18 km/h, bei denen es sicher nicht bleiben wird, befürchte ich, denn bald schon, wenn die Mittagssonne ihr Werk vollbracht hat, wird dieser Gegenwind mir den Rest geben. Sicher, sicher!

Pause. Die habe ich mir verdient! Mal wieder.

Ich halte an. Völlig außer Puste, noch die Ermüdung von Kamloops in den Beinen, rolle ich auf einer kleinen Schotterausbuchtung aus, steige nicht sofort von meiner Speedmachine, dafür reicht die Kraft nicht. Halte an, rolle aus, klinke die Füße aus und liege einfach da. Liege da in der Sonne, Arme baumeln lustlos herunter, und es ist erst der brennende Harndrang, der mich zum Aufstehen bewegt.

So stehe ich da, versuche wieder, den Strahl aus dem Wind zu nehmen, staune, dass er fast 2, 3 Meter weiter weg neben mir den Boden trifft, so stark schon bläst es hier.
Entmutigt, fast beschämt esse ich einen Riegel, schiebe lustlos eine Banane hinterher und vergesse, mich daran zu erinnern, was ich gestern im Regen gelernt habe und vergesse noch mehr, dass ich mir das hier selbst ausgesucht hatte - und ich hier im Urlaub, nicht bei einem Rennen bin.

Wie in einer Achterbahn geht es mal hoch, mal runter, dann wieder hoch, dann wieder runter - sowas macht einen Radfahrer fertig!

Weiter geht es mit 18 km/h. Weiter geht es, mal hoch über den vielen Seen, mal tief unten, direkt neben ihnen auf Bodenniveau. Es frustriert mich zusehends, auch wenn ich mir Mühe gebe, das alles gelassen und locker zu sehen. Aber angesichts der schmerzenden Knie (ich hatte seit Monaten keine Knieschmerzen mehr) fange ich dann doch an, mir leichte Sorgen zu machen.

Hinzu kommt diese Streckenführung, das stetige Auf und Ab, das mich wahnsinnig macht. Es raubt mir den Verstand, denn ich kann mich nicht einmal für wenigstens eine Viertelstunde auf eine konstante Trittfrequenz einstellen - das ständige Wechseln der Geschwindigkeiten, der Belastungen an meinen Muskeln und nicht zuletzt ein Dutzend Schaltvorgänge alle paar Minuten schlauchen einfach auch den routiniertesten Fahrer.

Es wird beim Betätigen der Rohloff-Drehgriffe immer schwerer, mit den nassen und rutschigen Handschuhen flüssig die neuen Gänge einzulegen. Immer öfter verschalte ich mich, was mich natürlich noch mehr aus dem Tritt bringt - und wenn so etwas dann auch noch an einem der unzähligen kurzen, aber extem giftigen Anstiege passiert, frustriert es umso mehr. Und schmerzt im Knie.

Wirken die Dinger überhaupt? Power-Riegel bei einer weiteren Pause.

So entscheide ich mich schon nach wenigen Kilometern am nächsten See - auch dieser könnte als Indianerfilmkulisse herhalten - wieder für eine Pause. Ich denke mir, wenn ich anhalte, ein wenig herumlaufe, mir die Beine vertrete, etwas esse und trinke, dann komme ich wieder etwas herunter, beruhige mich und kann vielleicht das, was ich an körperlicher Kraft verliere, an Motivation wieder gutmachen.

Ich täusche mich. Denn kaum habe ich mich an diesem - ansonsten idyllischen - Ort niedergelassen, dahinsinke in ehrlich gemeintem, schmerzhaften Ächzen, endlich im Gras sitze, sehe ich rund um mich herum die Überreste dessen, was hier wohl ständig bei Nacht passiert: Kondome.

Die bunten Lappen, ich will gar nicht daran denken, wie viele hier herum liegen, sind überall verteilt und leuchten in den schillerndsten Farben. Komisch, denke ich, dass ich das nicht bemerkt habe, als ich hier hergerollt bin?
Tja, anscheinend bin ich hier beim Standard-Romantik-Spot von Kamloops gelandet - nur eine halbe Stunde Fahrt im klimatisierten PickUp von der Stadt entfernt, ruhig am noch ruhigeren Highway, an einem tollen See gelegen. Ich stelle mir vor, wie sie hier stehen, stehen und sich in klaren Sternennächten ihr Liebesgesäusel zuraunen.

Und bevor mir endgültig der Appetit auf die ohnehin mittlerweile schwer herunter zu bekommenen Bananen angesichts der prall gefüllten Präser vergeht, breche ich meine Pause ab und wuchte mich wieder an Bord der Speedmachine. Dann lieber in der Sonne schwitzen, als neben Spermien sitzen ...

Back on Track - sieht nett aus, ist aber verdammt harte Arbeit.

Besonders schlimm aber wird es - wieder einmal - wenn mich die Trucks überholen. Anders als sonst, wo sie mich für einige Sekunden wie vom Katapult abgeschossen, auf eine wesentlich höhere Geschwindigkeit beschleunigen, ist es jetzt, wenn sie mich überholen, diese fetten Amiteile, als wenn mir Muttern eine scheuern würde.

Patsch!, macht es dann, das Liegerad schwankt, ich kann es nur mit Mühe auf Kurs halten und muss extrem aufpassen, nicht von einer Sekunde auf die andere in den Split-Streifen neben mir oder weiter - und schlimmer - noch, in den Straßengraben gestoßen zu werden.

Sehe ich die Trucks kommen, atme ich ein, halte die Luft an, umfasse - umklammere fast - den Lenker so fest ich kann, senke leicht den Kopf, denn ich weiß, was jetzt kommt: Zu erst trifft mich eine Luftwalze wie ein Schlag, ich kann es bis in die Lungen fühlen, ein Knall in meinen Ohren, vor mir, die Digitalanzeige meines Bike-Computers rutscht augenblicklich um mehrere km/h ab und ich werde leicht nach vorn gedrückt - das Bike bremst.

Und dann, unmittelbar danach, zerren ein, zwei Sekunden lang die Winde der Schleppe an mir. Werfen mich mal nach links, ziehen mich zum Mittelstreifen, mal stoßen sie mich nach rechts in den Straßengraben. Erst, wenn der Truck schon lange hinter dem Berg verschwunden oder klein in meinem Rückspiegel verschwindet, erst dann habe ich das Rad wieder unter Kontrolle.

Und muss mich daran machen, von müden 11 wieder auf meine maximalen 18 km/h zu beschleunigen - und meist sehe ich dann voraus schon den nächsten Truck.

Die Leute, die hier wohnen, haben es gut: Bequeme Anreise, klimatisierte Räume und ein eigener Badesteg. Ich schwitze.

Und Wehe mir, wenn ich mal zwei Lastwagen sehe, dann blüht mir eine Tracht Prügel, die Ihresgleichen sucht.

Aber der Tag hat durchaus auch seine schönen Seiten - zumindest zwinge ich mich, diese wenigstens ab und zu neben meinem Groll, den Sorgen ob meiner Knie und dem Frust des Windes wegen, zu erkennen.

Dann blinzle ich durch die Sonnenbrille in flache Weiten, folge mit meinen Augen dem Lauf eines Sees, der frisch und Kühlung versprechend zwischen gräsernen Bergen eingebettet liegt. Einzelne Ranches stehen da, perfekte Wochenend-Anwesen, denke ich, beneide die Besitzer und stelle mir vor, wie es dort in den Kühlschränken vor kalten Getränken und massenweise Eiswürfeln nur so wimmeln muss. Einfach anhalten, einfach klopfen, einfach fragen ... denke ich, bekomme wieder vom LKW eine gescheuert und bin im Nun im Hier und Jetzt - und da weht ein harter Wind von vorn, da drückt die Uhr, da schmerzt es im Knie. Und da steigt mir seichter Brechreiz empor, wenn ich nur daran denke, meinen knurrenden Magen mit einer weiteren Banane, einem weiteren Riegel füllen zu müssen.

Am besten gar nicht mehr auf den Bike-Computer schauen - das frustriert nur noch mehr!

Kilometer 50 geschafft - und wo ich sonst am "Bergpunkt" ein kleines, siegesbewusstes Grinsen aufsetze, schaue ich nur müde auf die grauen Zahlen, die da, fast, als hätten sie Angst vor mir, in blassem Grau auf dem Sigma stehen.

Mittlerweile - das hat also alles auch sein Gutes - scheine ich mich in einer Art erzwungener Ausweglosigkeit in eine Art Gleichgültigkeit zu treten. Ich finde mich mit den 18 km/h, die da stehen ab, und selbst meine sonst so häufigen Wutausbrüche, wenn ich etwa nach einem der kurzen, harten Anstiege noch nicht einmal 30 km/h auf den ansonsten ja steilen Abfahrten erreichen kann, bleiben aus.

Leck mich doch am Arsch, Scheißwind! Das denke ich, versuche, mich nicht ständig fest zu krampfen und trete eben. Trete eben wie ein Tier. Na und? Dann hab ich halt Gegenwind.
Und? Ist das jetzt alles, Windgott? Das soll es schon gewesen sein, mehr hast du nicht zu bieten? Schlappschwanz!

Die Sonne macht einen irgendwann Malle - und so meckere ich mit dem kompletten Pantheon der Windgötter.

Schau mich mal an, du Windtyp: Keine 65 Kilo wiege ich, lächerlich, geradezu. Und du versuchst mich hier, fertig zu machen? Weißt du nicht, dass deine Brüder auch schon versagt haben?

Berggott, der versucht hat, zusammen mit eurer Mutter, der Sonne, mich zu brechen. Er ist gescheitert, kläglich. Angst habt ihr versucht, mir einzureden. Irgend etwas von nicht schaffbaren Steigungen, von zu engen Tunnels. Pah! Das ich nicht lache.

Und Regengott, was war das für eine armselige Vorstellung? Das war alles gestern?

Und nun du, Windgott. Du versuchst es also auch noch, ja? Wirfst mir eine Böe nach der anderen in den Weg, versuchst, mich mit Atmosphäre zu überwältigen, mit Scherwinden, mit fiesen Seitenwinden, ja? Keine Frage, du machst das ganz okay.
Aber du kriegst mich nicht. Kriegst mich nie!
Da macht ja meine Ex-Freundin mehr Wind, als du es kannst!

(Rede ich mir ein und hoffe, dass sich die drei nicht mal verbünden, und Regen-, Berg- und Windgott einen gemeinsamen Angriff fahren - und dann noch meine Ex. Na hossa!)

Tolle Seen - ideales Agelrevier, wie viele Schilder künden. Und die Fische im Wasser, sie haben es wenigstens schön kühl.

Das göttliche Streitgespräch - meine ganz persönliche Commedia del Arte - schafft es, dass ich mich ablenke vom stressigen Fahren. Fast habe ich das Gefühl, durchzudrehen. Nachdem ich in Portugal auf den schweren Etappen schon in völliger Sonnenstich-Manier Durchsagen á la Lufthansa gemacht habe - streite ich mich nun also in Kanada mit der Créme des Wettergott-Ensembles.

Nicht schlecht.

Und, ich nehme es mir jedenfalls vor, ich brauche dringend wieder Konversation mit echten Menschen, sonst bin ich wohl reif, wenn ich denn dann irgendwann mal in Seattle angekommen bin. Seattle, schießt es mir durch den Kopf. Seattle. So weit weg. Erst einmal muss ich das hier schaffen. Es erst mal nach Merritt kommen. Halbzeit schaffen. Dann weitersehen.

Das Tal wird breiter. Und der Wind noch einmal stärker.

Dann werden wie auf Bestellung die Winde noch einmal stärker. Aha, denke ich, aha, mache ich - Windgott legt noch einen drauf. Gut, das kann ich auch, hebe mein Becken und pupe gegen seine Böen an.

Ein Thema, das mir schon oft auf der Zunge lag, aber das ich nie angesprochen habe. Warum eigentlich? Keine Ahnung, aber heute, heute denke ich mir, kann es mal raus - muss es mal raus. Sportblähungen. Ich weiß nicht, ob es an den Nahrungsergänzungsmitteln liegt, ob es die Unmengen von Bananen sind, ob es die Müsliriegel verschulden - aber pünktlich 4 Stunden nach Etappenbeginn startet bei mir immer eine Bläh-Attacke vom Feinsten. Immer schon.

Vielleicht kommt es auch vom stetigen Treten, das die Peristaltik meines Magen-Darm-Traktes durcheinander bringt. Ich weiß es nicht - aber in den nächsten ein, zwei Stunden, das weiß ich aus Erfahrung, werde ich mir einen fröhlichen Körper-Dialog mit dem Wind liefern: Auf seine Windbö folgt prompt meine sonorisch-bassige Antwort des Darmendes.

Na herrlich, haben wir das auch mal abgehandelt!

Wenn mir jetzt noch einer eine dieser "klugen" Liegeradfragen stellt ... hat der Arsch aber Kirmes!

Aber so schön das auch sein mag, meine Laune kann es nicht bessern. Denn je näher ich Merritt komme, desto dichter wird auch der Verkehr. Die letzten 15 Kilometer sind die Hölle: Nun in einem freien, weiten Tal fahrend, bietet nichts mehr dem Wind Widerstand.

Und so sehe ich mich immer wieder anschwellenden Windböen ausgesetzt, die mich nun endgültig zu zerstören drohen. Immer stärker anschwellende Windböen bremsen mich nunmehr auf unter 15 km/h ab. Und das bedeutet, dass diese ansonsten lachhafte Strecke von 15 Kilometern eine ganze Stunde harter Arbeit bedeuten wird. Eine ganze Stunde - für eine Distanz, die ich sonst in dreißig, vierzig Minuten wegtrete wie nichts.

Hier wird es Qual.

Ein riesiger Adler sitzt auf einem Mast. Hoch oben kann er seite Beute ausmachen, sie in aller Ruhe anvisieren, sich auf sie stürzen und töten, reißen, so, wie es seine Bestimmung ist als Raubvogel.

Ob er meine Verzweiflung spüren kann? Meine Schwäche, meine Lustlosigkeit? Ob er merkt, dass ich verzweifelt bin, dass ich jederzeit - hätte ich die Chance dazu - aufgeben, das Rad abstellen, parken würde?

Er beäugt mich, als ich mich schnaufend an ihm vorbeiquäle. Er fliegt nicht weg. Und ich weiß auch, warum: Er merkt ganz genau, dass von mir heute keinerlei Gefahr ausgeht.

Unendlich lange bin ich unterwegs. Unendlich lange ertrage ich mein schmerzendes Knie. Unendlich oft fluche ich, noch mehr trete ich, kurbele gegen den Wind an, der sich manifestiert in einer senkrecht im Wind stehenden Kanada-Flagge, die das Erste ist, was ich von Merritt, meinem Etappenziel, sehe, das ich endlich, kaum zu glauben, nach lachhaften 5 Stunden erreiche.

5 Stunden für eine Strecke, die auf der Karte ein Nichts ist.
Die im Höhenprofil so einfach aussieht.

Und die mich heute an die Grenze des Möglichen gebracht hat: Zu erst der 20 Kilometer lange, extrem steile Anstieg auf das Dach von Kamloops, in brütender Sonne, dann das ewige, giftige Auf und Ab, das in die Knochen geht, in die Handgelenke geht, das einen weich kocht, weich klopft geradezu, wie ein Steak der Rinder, die da gegrast haben. Und dann die Schläge des Windes und seiner Gehilfen, der Trucks, die einen schwarz vor Augen lassen werden.

Und nun doch da. Auf einmal. Angekommen.

Ich habe nur noch Hunger. Will nur noch ein heißes Bad. Will was echt Kaltes Trinken. Will ein Bett. Will ruhen. Mein Motel, das ich von Deutschland aus gebucht hatte, liegt 5 Kilometer außerhalb vom Zentrum. "Ihr seid doch bekloppt!", tippe ich mir selbst an die Stirn und checke in einem Motel direkt im City-Center ein.

Frisch gebadet, down to Earth - aber hungrig wie ein Bär - stürme ich den nächsten Supermarkt, nachdem die Restaurants des dann doch nur aus einer Hauptstraße bestehenden Zentrums des "Capital of Country-Music" mich nicht überzeugen konnten. An den Regalen mit den Power-Bars überlege ich kurz, zu etwas stärkeren Mitteln, als meinem isotonischen Pülverchen aus Calgary zu greifen, belasse es dann aber bei den normalen Dingen.

Ein frischer Obstsalat, ein paar frische Sandwiches und - da mein Motel kein Frühstück bietet - etwas Leckerem für morgen sowie nebenan ein toller Latte Macchiato genügen mir.

Die letzten Stunden des Tages einfach daliegen und den Franzbranntwein einwirken lassen - er brutzelt förmlich auf meinen heißen Schenkeln.

So kehre ich heim, entledige mich meiner Klamotten, pflege kurz die tapfere Speedmachine, die mich heute wieder - anders als ihr Pilot - ohne Probleme, ohne Murren oder Macken, sicher und fehlerfrei ans Ziel gebracht hat.

Ich plumpse in mein Queen-Size Bett, ignoriere die Hauptstraße, die direkt neben meinem Fenster brodelt, zappe durch die Kanäle und schaue Nachrichten, während ich es mir schmecken lassen und meinen brennenden Waden - und meinen Knien vor allem - eine ausgiebige, liebevolle Massage mit Franzbranntwein angedeihen lasse.

Und es ist die etwas merkwürdige Art und Weise, wie Volkswagen in Amerika wirbt - "Autobahn for all" - die mich darauf bringt, einer guten alten deutschen Tradition nach einer schweren Etappe zu fröhnen: Dem Feierabendbierchen.

Ich danke noch einmal Martin, dem Cellisten, dem ich alles Gute für sein Vorstellungsspielen heute wünsche, als ich sein Geschenk aus dem Froster meines Kühlschrankes hole: Es ist zwar nicht viel, aber er schenkte mir eine Dose Asahi-Bier, als er hörte, dass ich plane, nach Japan zu gehen.

Er schenkte es mir uns sagte, ich solle es trinken, wenn ein besonderer Moment es verlange.

Und obwohl es das wahrscheinlich kleinste Bier der Welt ist, trinke ich es mit Stolz, mit Freude und mit Genuss. Diese deutsche Tradition, nach einer Etappe ein Weizen zu trinken, auf kanadische Verhältnisse und Gegebenheiten angepasst: Eiskaltes Asahi-Bier, Abschluss dieser schweren Etappe, die sich in meinen Kopf einbrennen wird und sich schon - so befürchte ich - in meinen Knien eingebrannt hat.

Diese Etappe, die sich auf dem Papier so nett angebiedert und sich dann als Biest heraus gestellt hat. Diese Kniebrecher-Etappe. Kneekiller. Der perfekte.

Gefahren: 105,38 km in 5:02 h und ekelhaft schmerzenden 20,92 km/h Schnitt.

Mit Absicht schaue ich nicht auf den Plan, will gar nicht wissen, was die Strecke für morgen bereit hält. Ich will es nicht wissen. Denn mein Unterbewusstsein wird diese Nacht genug mit der vergangenen Etappe zu tun haben, als dass es noch die Qualen einer zukünftigen Etappe bewältigen könnte.

Ich schlafe ein, schräg gegenüber brodelt ein Nachtclub dumpfe Country-Rhythmen in die Nacht, aber mir ist es egal, ich träume mich sofort hinüber in eine andere Welt, während ich hoffe, dass es mein Körper schafft, die Wunden des heutigen Tages zu heilen, über Nacht.