Heute habe ich frei. Einen Tag aufholen. Fast komme ich mir wie ein Weichei vor - gestern gerade mal keine 130 Kilometer gefahren und schon einen Ruhetag einlegen wollen. Aber ich komme nicht drum herum: Durch meinen Rechenfehler mit der Zeitverschiebung muss ich 24 Stunden rumkriegen.
Und hey - ich bin im Urlaub. Und wo kann man Zeit besser "rumkriegen", als in einer 4-Sterne-Lodge inmitten eines wundervollen Nationalparks?

Ich habe einen Ruhetag. Also beschließe ich, erstmal auf einen Berg zu steigen.
Es gibt hier so viele, aber zu einem, da weisen überdurchschnittlich viele Schilder in Banff. Es ist einer der kleineren Berge, die den Ort umgeben. Eine Kuppe, keine schroffe Felsklippe. Bewaldet bis oben hin. Ein schöner, smoother Berg. Einladend, nicht so "hier kommst Du net rauf!"-mäßig wie die anderen Berge.
Nur 1.700 Meter hoch.

Ich überhole ein älteres japanisches Pärchen, das die Warnschilder "No Shortcuts!" ignoriert und genau zwischen den Serpentinen hinauf klettert. Schutt, Geröll und allerlei Herabgefallenes liegt da. Aber der Herr lächelt und verbeugt sich so nett, als ich ihnen ein "Good Morning!" zurufe, dass ich mal den Oberlehrer stecken lasse.
Ich ziehe an ihnen vorbei, komme immer höher. Muss schlucken. Druck auf den Ohren. Immer wieder drehe ich mich um.

Hier fühle ich mich gut - Höhensonne, Höhenluft, Höheneinsamkeit. Ich bade mich in den tanzenden Schatten, die die Sonne durch die Tannen auf meinen Körper wirft. Rieche den Harz der Bäume, die hier schon waren, als noch keine Touristen auf vorgefertigten Wegen diesen Gipfel erreichten. Als nur der Adler allein seinen Horst hier hatte..

Ich blicke nach Osten. Und sehe das Gestern.

Durch dieses Tal kurbelte ich, zügig, motiviert, ein bisschen geschafft und da hinten, ich sehe es genau, da musste ich pinkeln. Gestern noch. Als ich noch nicht wusste, dass hier, eine Kurve weiter, hinter dem Berg, schon Banff liegen würde.
Ich spiele Zeitschätzen. Halte die Abschnitte meiner gestrigen Tour zwischen Daumen und Zeigefinger und versuche zu ergründen, wie viele Stunden das wohl sein mögen. Wie viel Schweiß, wie viele Krämpfe, wie viel Spaß, wie viele tolle Momente passen zwischen zwei Finger? Wieviel Radtour bekomme ich in meine Hand?

Und wieder nehme ich die Strecke zwischen meine Finger und rechne - 9 Uhr bin ich dort, dort, wo das einsame Haus steht. Und gegen 10 werde ich von hier oben aus schon nicht mehr zu sehen sein, weil ich hinter der Kurve verschwunden bin und nach Norden fahre. Dorthin, wo bei Lake Louise der Highway 1 einen Ableger hoch nach Jasper schickt, den Icefields-Parkway, den ich auch so gern sehen wollen würde, es aber aus Zeitgründen nicht schaffe.

Und stelle mir vor, wie das hier früher war, als die Indianer auf Trampelpfaden ihre Jagdreviere durchmaßen. Und irgendwann, wahrscheinlich auch durch das Tal, durch das ich gestern geradelt kam, eine Horde nach Whiskey stinkender Cowboys geritten kam, um auch dieses Tal zu "erobern".
Ich mag diesen Gedanken nicht und beschließe, mich an den Abstieg zu machen.

Bergab geht es schnell. Es ist, wie nach Hause fahren - auch wenn es de facto die selbe Strecke ist, gleich lang, gleich schwer, man hat immer das Gefühl, schnell wieder daheim zu sein. Nach einer weiteren Stunde auf den zuweilen mit meinen vollkommen Wander-Ungeeigneten Converse, erreiche ich wieder Downtown Banff.
Eine kleine Straße geht ab, eine Nebenstraße. An ihr stehen keine Häuser, sie führt in den Wald. Als ich das Schild lese, kapiere ich - Wolverine wohnt hier. Ah, nach klaro, den möchte ich auch nicht als Nachbarn haben ...

Bananen, Wasser, Saft, Power-Riegel - hey, hier haben sie sogar PowerBar! An der Kasse bemerkt die Kassiererin, dass meine VISA aus Deutschland ist und beginnt ein nettes kleines Gespräch mit mir.
Sagt mir, wie sehr sie Deutschland mag. Gerade Deutschland, Deutschland möge Sie sehr.
Ob sie schon einmal da war, frage ich.
Nein, sagt sie da.
Ich frage nicht weiter, warum sie denn dann Deutschland so mögen würde, wenn sie noch nicht einmal da gewesen sei - denn ich fürchte, sie würde "Autobahn" sagen.

Bruce, mein persönlicher Ober, bedient mich aufs Vortrefflichste. Wir kosten 3 Weine, ehe ich meinen Favoriten habe - dabei sage ich ihm nur, dass ich fruchtig-trockene Rotweine bevorzugen würde.
Das Stuffato, das er mir serviert, ist ein Traum, die Pasta auf dem Punkt und so gar nichts in diesem Restaurant erinnert an Luigi´s Pasta-Bude, in der man sich sonst so wiederfindet, wenn man mal schnell irgendwo zum Italiener will.
Und weil Bruce mir das hausgemachte Eis so nett anpreist, nehme ich das zur Feier des Tages gleich noch mit - und erhalte drei Riesenkugeln aus Schokolade (zum Hinknien!), Kirsche (ein Traum!!) und Mango (mein Kragen platzt!!!). Hervorragend. Exquisit.
Wie auch die Rechnung, die Bruce mir dezent neben meinen Fruchtig-Trockenen legt.

Regne mal ruhig, denke ich.
Regne dich mal ruhig aus über Nacht. Hauptsache, morgen ist es trocken.
Morgen geht es nach Golden. Tiefer, noch tiefer in die Rockies. Denke ich, als ich einschlafe, und im Traum wieder ober auf dem Tunnel Mountain stehe. Eine riesige Kanone habe, um die Whiskey-Cowboys, die in dieses wunderschöne Tal eindringen, abzuwehren.
Es wird ein lauter Traum.