Rogers Pass? Passt, Roger!

Tag 6: Golden - Revelstoke

Der Tag beginnt, als sei ich ein König. Obwohl gestern Abend der Wetterbericht Angst und Schrecken verbreitet hat, dauernd war von "severe Thunderstorms" in Ost-British Columbia die Rede, blicke ich aus meinem Souterrain und schaue in einen wolken- und makellosen Himmel. Freude und Grinsen stehen auf meinem Gesicht und so macht auch das Aufstehen keinerlei Probleme.

Früh sitze ich oben in der Küche, Randell ist auch schon wach, ich bin der Erste, der am elegant porzellanig gedeckten Tisch Platz nimmt und sich Ham & Eggs zubereiten lässt. Der Kaffee ist heiß, frisch, dampfend und - mal nicht die übliche, nordamerikanische Magermix-Mischung.

Ich bin guter Dinge, beiße beherzt in die Toasts, die dick mit selbst gemachter Konfitüre bestrichen sind, Randell fragt, wo es hingeht, ich antworte Revelstoke und dann grinst er, nickt und macht mir Angst.

Grandioses Wetter. Ebenerdiges Fahren. Die ersten 30 Kilometer bringe ich leichtfüßig hinter mich. Der dicke Brocken kommt noch. Zwei von ihnen.

"Wow, Revelstoke", meint er. Immer wieder nickt er.
"What´s about the Route?", frage ich.
"It´s hard - you got the Rogers Pass there.", wird der Hausherr auf einmal ernst und sagt drei Worte hintereinander: "Long. Steep. Hard."
Und Zugabe: "Sometimes it will snow there."
Ich schaue blöd.
"Well, propably not this time ...", fügt er hinterher.

Na, scherze ich, das ist doch genau meine Etappe! Ich grinse ihn an, er nickt anerkennend und hat diesen "Na, Du wirst schon sehen, Digger"-Blick in den Augen, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und beiße statt dessen in mein Toast.
Auch der Bissen fällt nicht mehr so stark aus.
Im Vorbeigehen meint Brian, dass es da Tunnels gibts. "Lots of them. Very dangerous, be careful."

Ah. Tunnel. Okay.

20 Minuten später sitze ich auf meinem Bike, trete rein und genieße die Morgenfrische neben meinen großen Brüdern, den Bergen, die dem Highway hier an dieser Stelle Schatten spenden. Es ist noch leer auf den Straßen, die Luft schmeckt feucht und ich blicke, wenn ich nach links schaue, in ein weites, weites Tal, über und über mit grünen Bäumen bewachsen, in der Mitte fließt der Fluss, das Tal umsäumt von hohen, weißbekuppten Bergen, wie abgekapselt, beschützt, weit weg von der Welt da draußen.

Auf dem Highway ist nicht die Bohne los - ich bin allein. Ein verirrter Truck alle 10 Minuten, selbst die Vögel schlafen noch.

Rogers Pass, geistert es in meinem Kopf herum. Rogers Pass. Ein Pass also. Heute, ein Pass. Vorbei und aus mit der Tal-Hüpferei. Heute die echten Rockies? Mal nicht nur zwischen den Bergen herumkurven, heute geht es über einen hinweg, über. Drüber. Oben drüber.

Ich drehe meinen Kopf und schaue angestrengt nach vorn zum Horizont. Google sagt, dass irgendwann der Highway einen Linksknick macht. Und dann verspricht mein Etappen-Profil den ersten Anstieg. Einige hundert Höhenmeter, dann eine kurze, steile Abfahrt und dann noch einmal einige hundert Höhenmeter. Zwei Anstiege. Zwei Monstren heute. Zwei mal Leiden?

Sehe ich den Anstieg? Den Berg, um den es geht? Ich schaue, suche. Suche den Anstieg - und finde ihn vor lauter Bergen nicht.
Also versuche ich, mich zurück zu lehnen, ruhig zu bleiben und die letzten ebenen Minuten zu genießen. Trucks überholen mich, einige wenige, und ich komme wieder in meinen Tritt, finden den Rhythmus.

Noch den letzten Ausblick in der Ebene genießen - von nun an fahre ich in Schräglage. Denn es geht bergan.

Ich komme an einer kleinen Siedlung vorbei, ein McDonald´s-Werbeschild, das die Autofahrer um umkehren nach Golden auffordert, grüßt mich und meint: "Next McDonald´s proudly serves you in 130 km." Ach schön, sage ich zu mir selbst. Amerikanische Normalität. Und ehe ich es mich versehe, knickt die Straße nach links ab, ich schieße über eine Brücke, unter mir träge der Fluss.

Dann kurz durch den Wald und ich stehe vor ihm. Dem ersten Anstieg.
Dem ersten wirklich fetten Zacken auf meinem Google-Maps-Profil.
Da ist er also, denke ich, blicke hoch und sehe, wie sich der Highway am Bergrücken entlang hangelt, in den Wald gefräst, steil geht es bergan.

Und so entscheide ich mich, nicht gleich in den Berg zu fahren, sondern eine kurze Pause zu machen, immerhin habe ich die ersten 30 Kilometer hinter mir und ... noch keinen Riegel gegessen. Randells Bananen, die er mir zum Abschied geschenkt hatte, lugen auch noch unberührt und keck aus den Bike-Taschen.

Die Trucker und Autofahrer schauen mich beim Vorbeifahren an: Ob sie mir wohl Glück wünschen oder mich einfach nur bedauern?

Und während ich da so stehe neben meiner Speedmachine, die schon in Richtung Anstieg blickt, das Tretlager angriffslustig auf den sich nach oben schiebenden Asphalt gerichtet, wie eine Katze, bereit zu Sprung, sie wartet, wartet auf ihren Piloten, auf mich, wartet, dass ich endlich meine Schuhe einklinke und ihre Pedale trete, endlich losfahre im starken Antritt, es dieser Steigung zeige, hart bleibe, diesen Berg erobere, fertig mache. Zermalme.

Ich esse erst einmal eine Banane.

Trucks schießen über die Brücke, legen sich neben mir in die Kurve, ihre Motoren heulen auf, oben schieben sie dicke schwarze Dieselwolken aus den Chromschornsteinen, wenn sie zwei, drei Gänge zurück schalten und sich dann laut brüllend die Steigung hinaufschrauben.

Ein letzter Schluck, um die Krümel des Power-Riegels hinwegzuspülen, ich atme durch, Helm aufgeschnallt. Dann hänge ich in dem Liegerad, rolle los, klinke mich in die Pedale ein. Speedmachine und Pilot sind nun eine Einheit. Die Räder als Verlängerung meiner Beine. Die Bremsen sind die Enden meiner Hände.

So mache ich mich daran, diesen Berg zu überfahren. Und merke, wie das Fahrrad langsam von der Horizontalen in eine Vertikale übergeht. Wie sich die Nase hebt. Der Bug nach oben zeigt. Ich in den Himmel blicken kann. Und merke, wie unsichtbare Gummiseile an mir ziehen. Zurück. Zurück, hinab, wollen sie.
Ich trete.
Und trete.
Und trete.

Sieht gar nicht so steil aus, oder? IST ES ABER!

Der Gradient ist nicht so steil, dass es einen gleich killt, merke ich bald, denn ich muss nicht einmal auf das kleine Blatt wechseln. Statt dessen kann ich noch recht bequem im dritten und vierten Gang fahren und halte bei optimaler Umdrehungszahl 11 bis 12 km/h, was mir an dieser Rampe überraschend schnell vorkommt.
Aber, so befürchte ich, der Berg wird erst noch sein wahres Gesicht zeigen.

Links neben mir türmt sich der Berg auf. Um seine Spitze sehen zu können, muss ich meinen Kopf bis ganz in den Nacken legen - was kurzzeitig meinem Balancegefühl schadet und ich zu schlingern beginne. Dann lasse ich das lieber mal - in einer Stunde bin ich eh da oben, denke ich und kurbele weiter.

Wo es vor einer Stunde noch mit flotten 28 km/h abging, schaffe ich hier am Berg gerade mal 8 km/h. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.

Rechts neben mir, hinter einer einen Meter hohen Betonbegrenzung, fällt der Abhang steil ab. Manchmal, wenn ich eine der seichten Kurven durchfahre, kann ich fast senkrecht nach unten blicken - sehe den Fluss, der sich mattbraun glänzend durch Pinienwälder schlängelt, kann kleine Forstwege erkennen - und wieder keine Menschen.

Ich atme durch, genieße die Leere.
Dann aber tropft wieder Schweiß in mein Trikot. Und ich schaue an mir herab, atme auf meine Brust und spüre meinen heißen Atem. Dann wird mir erst richtig bewusst, auf ein mal, wie schwer diese Etappe doch ist. Wie hart dieser Anstieg, den ich mir schön gekurbelt habe, dessen Schmerz die Trance des Fahrens abklingen ließ, der aber immer mal wieder durch kommt.

Und plötzlich fühle ich, wie sehr meine Waden schmerzen und realisiere, dass sie schon seit Kilometern weh tun. Müde, müde Beine, denke ich, ich armen Dinger - und das hier ist erst der erste Anstieg. Der Kleinere.

Tolle Landschaft - wieder mal. Ich kann mich, bei allem Leid, gar nicht satt sehen an dieser Natur. Keine Menschen weit und breit - Luxus!

Ich rechne. Rechnen - obwohl ichs nicht besonders gut kann - lenkt mich ab. Hoffe ich. Ich rechne also, wann ich wohl ankommen würde in Revelstoke. Wann?

Nicht, weil ich noch etwas vorhätte - das kommt erst morgen, Whitewater-Rafting - sondern weil es ab frühem Nachmittag zuweilen sehr ungemütlich in den Rockies werden kann. Gestern gespürt. Wind. Wind setzt ein.

Vielleicht, so reime ich mir mit meinem meteorologischen Halbwissen einiges zusammen, vielleicht ist es morgens noch frisch, ruhig und windstill. Die Sonne heizt dann die Luft an, die nach oben steigt - natürlich in der Mitte der Canyons - was zur Folge hat, dass an den Bergrücken der Monsterberge kalte Luft nach unten gesogen wird. Was Wind zur Folge hat, der dann, durch die engen und engen und immer enger werdenden Täler getunnelt und verstärkt wird.

Also, so rechne ich, ist es eigentlich richtig ungünstig, dass ich jetzt, wo es noch windstill ist, diesen langsamen Abschnitt fahren muss - und nachher, wenn es schnell wird, werde ich Gegenwind haben. Mist verdammt, denke ich, als auf einmal eine Gruppe von 20 Rennradlern, alle im gleichen Trikot, um die Ecke geschossen kommt.

Sie grüßen alle, rufen "Hi there!" oder "Have a good one!", winken, nicken und lächeln. Ich komme mit dem Grüßen gar nicht hinterher - komme mir vor wie ein Politiker, der eine Parade abnimmt. Als das Begleitfahrzeug - natürlich profimäßig in Sponsorenfarben - auch noch hupt, ist es vorbei. Die surrende Rennradschlange ist schon außer Sicht. Ich bin wieder allein am Berg. Mit mir, mit dem Wind, dem Rauschen in den Baumipfeln, fernen Geräuschen, stillen Kondesstreifen, die sich wie Lindwürmer durch den blauen Himmel winden und allein mit dem Surren meiner Kette unter mir, dem stoßweise Atmen, meinen verkampften Fingern am Lenker, dem Schweiß auf meinen Waden - allein.

Ob der Rogers Pass mich wohl über so einen Brocken führen wird?

Glückliche Rennradler, denke ich, diese Steigung hier würde ich auch gern hinabfahren, statt mir mühsam jeden Hohenmeter mit 20 Umdrehungen erobern zu müssen.
Aber meine Abfahrt kommt auch noch. Sicher. Denke ich und ... übe mich in Zen. Ruhig bleiben, Rhythmus finden, kurbeln.

Da schießt noch ein Rad um die Ecke. Schwerer, klobiger, beladen, Ortlieb-Taschen im bekannten Rot glänzen. Ein Reiseradler, sicher!
Wow, denke ich, dafür, dass ich mir hier so einsam vorkomme, ist jetzt hier aber ganz großer Bahnhof!

Ich winke.
Er winkt.
Ich schwenke rechts ein, der Zufall will es, dass es hier eine Haltebucht gibt (und pinkeln muss ich sowieso).
Er schwenkt ein. Aha, freue ich mich, das wird also endlich mal eine Pause mit einem echten Gespräch.

Reinhard fährt von Vancouver nach Montreal - viel Glück Dir!

"Wow. That´s a ...", beginnt er und weiß nicht recht, wie er mein Fahrrad nennen soll.
"A Recumbent Bike.", vervollständige ich den Satz.
"A, yeah, that´s it! Is is fast and good in ... in the Mountains?", hakt er nach und macht eine Armbewegung, die die Rockies umfasst.
"Well," mache ich, "yeah, it´s very fast. Hills are no problem - but you have to cycle anyway."

Meine Standardantwort, wenn mich Leute fragen, ob es einfacher oder schwerer sei, auf einem Liegerad zu fahren. Komischen, dass immer diese Frage gestellt wird, dabei ist sie vollkommen unlogisch: Wie schwer es ist, bestimmt doch der Fahrer, indem er mehr oder weniger hart fährt?!? Ich antworte dann immer, dass man auf im Liegerad treten muss - und ob ich nun liegend oder sitzend trete, ist egal.

Wir reden weiter, bis, so nach 15 bis 20 Minuten - ich spreche gerade und versuche, ihm auf Englisch zu erklären, worin ich die Vorteile eines Liegerads sehe, er seine Augenbrauen runzelt.
"... and there you really have the advantages - a Recumbet Bike gives you the Opportunity to ..."
"Äh, bist Du Hamburger?", fragt er auf Deutsch.
Ich stoppe. Und stutze. "Äh, ja?!"
Er hält mir noch einmal seine Hand hin, sagt "Reinhard!" und freut sich. Na, denke ich, dann halt auf Deutsch, und schüttle seine Hand.

Reinhard ist von Vancouver aus nach Montreal unterwegs, fährt meine Strecke also in entgegen gesetzter Richtung, will bis Calgary und dann weiter durch die Weiten der Prairies bis an den Atlantik. Im September, also in 3 Monaten, will er dort angekommen sein. Wow, denke ich, was für eine tolle Tour - und wie viel cooler als meine lumpigen 3 Wochen!

Das Weltreise-Fieber, die Erdumrundungs-Sehnsüchte steigen wieder in mir hoch.

Wieder allein mit mir. Mit mir und der Steigung. Ach schön.

Reinhard fragt, wie die Strecke nach Golden noch so sei. Ich beruhige ihn - eine schöne lange Abfahrt erwarte ihn jetzt, dann gehe es durch ein flaches, lang gezogenes Tal und in 45 Kilometern steht dann da schon Golden. Er freut sich.

Dann frage ich ihn, wie es denn in meiner Richtung aussähe. Er runzelt die Stirn. Erinnerungen an Schmerzen huschen vor seinem inneren Auge vorbei, das sehe ich.
"Steil wird es am Rogers Pass, sehr steil!", beginnt er. Na hossa, denke ich. "Oben kommen dann Schneetunnel. Sehr eng, da musst Du echt aufpassen - vor allem, wenn Trucks kommen, denn die haben da drin keinen Platz."

Ach schön, denke ich. Und was soll ich da nun machen?
"Tja, am besten, Du fährst in den Tunnel, wenn kein Truck kommt.", rät er mir. Aber, so überlege ich, während ich schon wieder langsam kurbele, Reinhard hinter mir im Rückspiegel verschwunden ist und sich wieder die Steigung vor mir auftüprmt - wie soll ich bitte in einem 1 bis 2 Kilometer langen Tunnel, der womöglich um eine Kurve führt, mit meinen lumpigen 8 bis 11 km/h schneller als ein Truck sein???

Naja, schiebe ich die Gedanken beiseite, das wird schon. Muss ja. Zur Not, mache ich mir vor, schiebe ich halt an der Tunnelwand. Wird schon.

Aber ein wenig mulmig ist mir dann doch.

Wenn es nicht so weh tun würde, würde ich glatt sagen, ich bin im Urlaub.

Dann aber holt mich wieder die Realität des Berges ein. Die brutale Steigung verlangt meine Aufmerksamkeit. Der kochende Asphalt fordert seinen Tribut - was denkst du an einen fernen Pass, wo du noch nicht einmal diesen hier gemeistert hast? Scheint mich die Vertikale zu fragen. Und wie, als würde mich ein gestrenger Lehrer mit einer Extraaufgabe strafen wollen, scheint die Steigung ein wenig steiler zu werden, als ich entlang einer in den steilen Fels gesprengten Felswand komme.

11 km/h, das war einmal. Dritter Gang, lang schon nicht mehr in meinem Rohloff Speedhub - jetzt kurbele ich mich mühsam bei 7 km/h im kleinsten Gang des großen Blattes empor. Ich muss so heftig atmen, dass ich es sogar nicht schaffe, aus meiner Flasche zu trinken.

Der Berg spielt mit mir: Tut so, als wäre alles vorbei. Und hinter der Kurve gehts wieder los. Humor muss man eben auch haben, als Radler.

Die Steigung will kein Ende nehmen. Ab und zu wird sie ebenerdiger, dann hoffe ich. Manchmal fällt sie hinter einer Kurve etwas ab, dann freue ich mich.
Aber meistens geht es schon sehr bald wieder straff bergan - dann seufze ich entnervt und schalte zurück.
Kurbeln, im Rhythmus, das ist jetzt die Devise.

Und dabei rufe ich mich zur Ruhe - nicht die alten Fehler begehen! Damals, ich ich noch jung und unerfahren auf dem Liegerad war und mich mit gerade einmal 2.000 Kilometern Fahrpraxis in die portugiesischen Sierras nahe der spanischen Grenze gestürzt hatte, hatte ich fast alle Fehler begangen, die man begehen kann.

Ich erinnere mich an die harten Etappen und rufe mir ins Gedächtnis, was ich gelernt habe.

Gute Miene zum bösen Spiel. Just for the Camera.

Langsam fahren - am Berg musst du nicht schnell sein! Schalte zurück, trete leicht in einer hohen Frequenz. Die Knie werden es dir danken. Einen Rhythmus finden, der angenehm ist. Es ist keine Schande, nur 8 km/h an einer Steigung zu machen - du bist nicht Alberto Contador, hast weder Profitraining hinter noch Epo in dir. Also tranquilo - langsam, sutsche.

Viel trinken. Man, so eine Steigung trocknet dich schneller aus, als du Liegeradfahrer sagen kannst. Und schlimmer noch, mit dem Schweiß spült es dir die Vitalstoffe und Körpersalze nur so heraus, wie es daheim deinen Klamotten im Schleudergang der Waschmaschine passiert. Trink viel! Iss Bananen. Mache Pausen.

Kleine Ziele setzen, motiviere dich! Zu fluchen bringt nichts, im Gegenteil - der Frust und die Wut lässt dich verkrampfen. Irgendwann hängst du dann zusammengekrümmt, schreiend und missgelaunt über deinem Lenker und brüllst dich die Steigung hoch. Und dabei vergisst du, nach links und rechts zu schauen, diese wunderbare Natur zu genießen, derer wegen du hier bist, die dich umgibt, dir kostenlos die schönsten Postkartenausblicke darbietet.

Bei so viel Berg muss man einfach über die Steigung hinwegsehen, rate ich mir selbst. Na also, geht doch!

Sieh das Positive an einer Steigung: Wer viel beragauf fährt, der wird viel bergab fahren. Und je steiler der Berg beim Aufstieg ist, desto steiler - und schneller - wird dann die Abfahrt.

Für mich heißt das, dass ich die bösen Gedanken vertreiben, eine Zen-Ruhe in mir einrichten muss. Ich zwinge mich, es mir ganz bequem zu machen. Was schwierig ist, denn immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich meinen Oberkörper an meinen Tiller-Lenker heranziehe und Rennradfahrer am L´Alpe d´Huez spiele - nur, dass meine Speedmachine keinen Wiegetritt zulässt.

Dann lehne ich mich zurück, entspanne meine Rückenmuskulatur, verlangsame bewusst das Tempo und schaue weg, weg von der Straße, weg vom Asphalt, weg von 8 Prozent Steigung. Und blicke hinüber zu den Bergen, wie sie majestätisch dastehen. Blicke hinab in die bewaldeten Täler, wo sich silbrig glitzernd ein erfrischender Fluss entlang schängelt.

Zen-Ruhe.
Ich brauche Zen-Ruhe.
Ruhe.

Und dann wird es endlich eben. Ich bin oben. Erster Aufstieg geschafft. Eine kleine Abfahrt belohnt mich, aber ein Blick auf das Streckenprofil verrät, dass es nicht lange sein wird, bis ich den echten, den wahren, den wirklichen Aufstieg erreichen werde: Rogers Pass.

Eine kleine, aber sehr beeindruckende Fahrt durch ein Tal später, hinter einer Kurve, auf einem kleinen, verrosteten Schild, da steht es: "Rogers Pass - Trucks and Slow Vehicles use right Lane!"

Ich werde nicht die rechte Spur nutzen. Ich werde die über-rechte Spur nutzen. Dort, dort hinter der Kurve lauert er. Der Anstieg.

Die Berge werden höher. Die Luft dünner. Die Temperatur kälter - es geht nach oben.

Langsam schiebt sich eine Schlucht zwischen zwei Bergen in mein Sichtfeld. Die Schlucht - der Pass - reicht aber nicht bis zum Boden, sondern zwingt die Straße in die Vertikale. Die beiden Berge türmen sich links und rechts vor mir, neben mir - über mir - auf, keine Chance, zu entkommen.

Sie sind so mächtig, so riesengroß, dass ich fast glaube, sie füllten meine Lungenflügel aus, dass ich fast glaubte, ihr massives Gestein reiche bis in die entferntesten Winkel meines Körpers - No Chance, denke ich, hier ist es Zeit, ehrlich zu werden. Hier kannst du nicht bescheißen, dich drücken, verstecken, rumblödeln - hier muss es klappen. Hier muss es gut gehen. Hier ist es, wo du deinen Mann stehen musst.

Langsam - (Himmel, jetzt schon, der Pass hat noch gar nicht richtig angefangen?!) - taste ich mich die angehende Steigung hinauf.
Truckmotoren heulen auf, auch sie haben ihre Probleme, ihre schweren Lasten den Pass hinaufzuschleppen. Selbst die flinken Autos scheinen wie mit Klebstoff am Straßenbelag fest geklebt zu sein, so träge mühen sie sich ab.

Die Berge wachsen und wachsen. Senkrechte Wände erheben sich neben mir. Schroffe, brutale, graue, grandiose Wände. Schnee prangt auf ihnen, Riesige Geröllfelder - tödliche Lawinen, zum Stillstand gekommen, ganz so, als habe jemand die "Pause"-Tase gedrückt.

Obwohl die Waden schmerzen - mit fokussierter Auto-Suggestion eine Gedanken-Aspirin kreieren.

Ich versuche, einen Tritt zu finden. Einen Rhythmus zu bekommen.
Ich schaffe es - im kleinsten Gang meines großen Blattes. Es gebietet die Ehre, denke ich (total bekloppt), nicht aufs kleine Blatt zu schalten. So mühe ich mich ab. Wer weiß, wie viele Umdrehungen pro Minute ich hier mache.

An km/h sind es genau 6.

Sechs Kilometer pro Stunde. So kämpfe ich gegen die Steigung. So versuche ich, wackelig und instabil der niedrigen Geschwindigkeit wegen, meine Balance zu halten, hier, auf dem Seitenstreifen, nahe der scharfen Blech-Leitplanke. Und versuche, den nun wieder zahlreich herumliegenden Steinchen auszuweichen.

Platten am Berg. Schlauch wechseln in der Vertikalen. Das fehlte noch, denke ich. Und stelle mir vor, wie dieses Unterfangen wohl sein würde - und habe unwillkürlich Astronauten im Kopf, die unter widrigen Weltraumbedingungen in ihren klobigen Anzügen versuchen, mit einem filigranen Werkzeug eine feine Justierung an einem hochsensiblen Satelliten vorzunehmen.

Nein, Schlauch wechseln am Berg, das muss nicht sein.

Der Rogers Pass wird zu einer engen - aber nach oben hin wahnsinnig beeindruckenden Schlucht.

Dann finde ich mich inmitten der Schlucht wieder. Wie breit mag sie an dieser Stelle sein? Wenige Kilometer, schätze ich. 1.000, vielleicht 2.000 Meter mögen zwischen den scharfgezackten Felsenwänden liegen.

Dröhnend, fast ächzend schieben sich die Trucks an mir vorbei. Sie ziehen nun, da sie so langsam fahren, zwar keine der nervigen Staubwolken hinter sich her, dafür eine dichte, stinkende Schleppe giftiger Dieselabgase. Ich halte dann die Luft an, um meine Lungen vor den ätzenden Feinstaubpartikeln zu schützen, aber das macht an einem steilen Berg, an dem schon eine normale Atmung kaum möglich ist, wenig Sinn.

Ich kämpfe. Kämpfe wirklich. Schweiß beginnt in Strömen zu rinnen und meine Trinkflasche - scheiß auf die warme Brühe! - leert sich beängstigend schnell. Ich trete, trete mich in Trance, versuche es zumindest, denn die Trance macht, dass der Wadenschmerz weg geht.

Versuche, mich im Lichtspiel, das die Sonne auf dem beständigen Auf und Ab meiner nassen Oberschenkel veranstaltet, zu verlieren. Und puste. Und atme. Und trete. Und stöhne. Und reiße mich am Riemen. Und leide.

Viel trinken - gerade am Berg - ist das A und O.

Der Berg nimmt mir alles. Saugt es raus aus mir, es verschwindet im Nirgendwo. Verschwindet in jedem Meter Steigung, sickert ein im heißen Bitumen wie Wasser in der Wüste. Mein kostbares Salz, meine Energie, meine Motivation. Nicht schleichend, wie sonst. Nicht langsam, nicht hinterrücks. Nein, dies ist keine dieser langen Etappen, bei denen man erst nach und nach bemerkt, wie einem die Kräfte entzogen werden.

Dies ist live. Wie eine Direktübertragung im Fernsehen - kein Abstand, keine Sicherheit, kein Regisseur, kein Plan. Hier geht es direkt, ohne Umwege: Steigung, Kraft und Verschleiß. Die Gleichung, der ich mich zu beugen habe.

So liege ich schräger als schräg in meinem Liegerad und trete. Trete nicht die Pedae. Ich trete den Berg. Trete ihn, als Zeichen, dass ich noch lebe, dass er mich nicht geschafft hat. Not yet, Kamerad! Not yet!

Ich mache eine Pause. Schätze, dass ich die Hälfte geschafft habe. Blicke hoch und stelle mir diese Gegend in klirrekalten Wintermonaten vor. Allein der Gedanke wirkt erfrischend. Dann blicke ich nach vorn, nach oben: Hinter einer Kurve, dort, über mir, verschwindet die Straße und wer weiß, was mich dort erwartet.

Ich werde es wohl gleich herausfinden, denke ich, lasse mich ächzend in die Speedmachine sinken, klinke mich ein und werfe meinen Wadenmotor an.

Die lang gezogenen Geraden mit viel Steigung sind am schlimmsten. Machen sich auf Fotos aber auch am besten.

So kämpfe ich mich hoch - hangle mich, in ablenkende Gedanken versucht zu versinken - von Kurve zu Kurve. Entwickle eine Gehirntechnik, um die Steigung vor meinem inneren Auge glatt zu bügeln, mir einzubilden, mir einzureden, dass es hier eben sein muss. Ignoriere, ja leugne, den Gradienten und trutze trotzig den Prozenten.

Schwer geht es - aber, und das ist gottseidank immer der nächste Gedanke - es ist so wunderschön hier, so belebend, so überwältigend, dass es sich schon tausendfach gelohnt hat, diese Strapazen auf sich zu nehmen.

Der Blick auf die Berghänge, diese wilden, romantischen Wände, sporadisch mit Zedern und Moos bewachsen, bestimmt voller Wild und Adler, ausgetretener Trampelpfade alter Indianerstämme, jahrhundertealter Pass, lange, bevor der Mensch sich dieses Tal erschloss mit seinem Beton und Asphalt.

Kanada, Du schönes Land! Ich sauge Dich ein, atme Dich, versuche, mir Deinen Geruch einzuprägen, diesen Duft von Weite, von - ja, auch das - Abenteuer. Ich grinse in meinem Schmerz. Ich lache bei meinem Fluchen. Ich freue mich im Leid.

Es ist großartig hier, denke ich, und kehre ins Hier uns Jetzt zurück. In den Schmerz der Senkrechten.

Und dann sehe ich die Tunnel.

Ach du Scheiße - die Tunnels!

Reinhard hatte mich gewarnt. Randell hatte schelmisch gegrinst. Da sind sie nun, die "Snowsheds". Die engen Tunnel. Trucks würden mich erdrücken, zerquetschen. Sie würden mich einfach überfahren, niedermalmen, zermantschen unter ihrem Gewicht. Sie würden es nicht einmal merken - kleiner, dürrer Liegeradfahrer gegen 40-Tonnen Stahl, die mit 50 km/h und 500 PS durch die Dunkelheit eines einen Kilometer langen Nadelöhrs toben? Keine Chance.

Ich halte an. Trinke einen Schluck und denke mir, dass es bestimmt clever wäre, das Licht anzumachen. Aber dann zögere ich - der Dynamo nimmt Energie. Schafft Widerstand. Es ist eh schon hart genug, sich diese Mördersteigungen hinaufzuschieben! Also befestige ich das LED-Blinky an meinem Sitz mit Blick nach hinten. Olli und ich hatten dieses kleine, nicht STVO-zugelassene Teil auf unserer Amsterdam-Probetour vor 2 Wochen gekauft. Ich stelle es auf "Nerviger-Blink-Modus" und schaue in den Rückspiegel:

"Niemals mit einem Truck zusammen in den Tunnel!", hatte Reinhard gesagt.
Kommt einer? Nein!
Ich fahre los.

Mmh. Ist ja weit weniger schlimm, als erzählt.

Und bin wenige Meter hinterm Tunneleingang umschlungen von angenehmer Dämmerung. Komisch, denke ich, dass dieses schummrige Licht genau das Gegenteil von Angst und Alarmbereitschaft in mir auslöst: Ich fühle mich sonderbar entspannt. Fast geborgen.

Was vielleicht daran liegt, dass dieser Tunnel mich von dem grandiosen, überwältigenden Anblick der Dreitausender ringsherum abschirmt. Wie im Mutterleib - warm, umschlossen, sicher.

Da kommt der erste Truck von Hinten. Ich fahre nach ganz links. Der Truck tost näher, ich höre das Klackern seines Diesels. Stark, unbgebändigt, PS-strotzdend. Im Rückspiegel schiebt sich bedrohlich eine stählerne Nase heran. Ganz nah ist er. Bebt unter mir die Erde? Dröhnen die Betonwände des Lawinentunnels? Er ist nahe ... ganz nahe ... es ist laut, lauter, Maschinengeschrei ...

... und dann fährt er ganz bequem vorbei.

Von wegen eng, denke ich. Pah, Reinhard, da haste aber ein bissel übertrieben! Die Tunnel sind breit genug, dass der fette Amitruck ohne Probleme und sicher vorbei kam. Na Mensch, rede ich mir ein, lege mich beruhigt zurück und muss nun nicht mehr alle 5 Sekunden nervös in den Spiegel schauen.

Und nun, nun kann ich es auch uneingeschränkt zulassen, dieses Gefühl der Sicherheit hier im Tunnel. Dieses "ich bin bei Mutti"-Gefühl.
Mitten im Anstieg.
Mittendrin, in der Scheiße.

Wow, denke ich, als ich ein ums andere Mal aus den Tunneln hinaus komme, ins Licht. Und sich die Landschaft verändert hat - noch steiler, noch schroffer, noch kahler und noch brutaler die Berge. Noch entrückter die Szenerie. Noch höher im Pass bin ich.

Zwei, drei Tunnels folgen. Dann der Vierte, der Fünfte. Und dann. Dann senkt sich die Straße plötzlich. Ganz ohne Pauken oder Trompeten. Glanzlos. Bescheiden. Fast, als bedauere der Berg, das er nun keine Prozente mehr parat hat. Da steht ein Schild. Schmucklos. Braun. Nüchtern.


Ganz oben auf. Ein tolles Gefühl - aber irgendwie fehlt hier der ganz große Bahnhof.

"Rogers Pass Summit: 1.330 m" steht da. Ich bin am Gipfel. Ganz oben angekommen. Die Straße knickt vor mir ab. Von jetzt nur noch runter, denke ich. Hier ist der Berg erobert. Bezwungen. Ein weiterer Zacken in dem endlos scheinenden Ausdruck des Google-Maps-Streckenprofils ist abgehakt.

Nun die Abfahrt. Nun der Lohn. Nun der Spaß.

Aber ich bin zu geschafft. Auf dem Gipfel sehe ich eine Tankstelle, ein Besucherzentrum, ein Restaurant. Drei Dutzend RVs parken dort. Dicke Menschen, bequeme Menschen, die, die mich stundenlang den ganzen Tag überholt haben, hier sind sie nun. Parken. Machen Pause. Stärken sich. Sie brauchen es ja auch.

Ich parke mein Rad. Leute kommen und schauen. Smalltalk mit dem "Crazy Cyclist". Atemlos trinke ich. Nicke nur und grinse, wenn Sie mir ihr anerkenndendes "Awesome! Great! Oh-my-Gosh!" um die Ohren schmeicheln. Trinke eine kalte Schokomilch. Lasse die Waden baumeln, so wie meinen verschwitzten Helm am Rad.

Ich bin oben.
Ich bin oben!

Endlich angekommen - die Pause habe ich mir nun aber wirklich verdient!

So sitze ich da, im Gras, erfrische mich, erfreue mich am Erfolg und beobachte die Menschen. Lange halte ich es so nicht aus. Fürwahr, denn obwohl sie schmerzen - zum Stillstand sind sie nicht gemacht, meine Waden. Und so springe ich schon nach 20 Minuten auf, begleitet vom freundlichen Gespräch mit einer franko-kanadischen Frau, schwinge mich in den Sitz meiner Speedmachine und fahre los.

Als sie mich wenig später nach dem Tankstopp überholt, hupt und winkt sie, fährt ein paar grüßende Schlangenlinien und entschwindet hinter einer Kurve.

Endlich bergab - endlich mal rollen lassen - endlich mal wieder lächeln.

Ich freue mich, grinse in die Sonne und genieße, was nun kommt - die Schräge nach unten. Die Abfahrt. Es sind noch 70 Kilometer bis zum Ziel Revelstoke - ein Gros dieser Etappe. Sonderbar, wie sich das anfühlt - denn es scheint mir, dass ich nach all den Strapazen und Stunden schon einen ganzen Tag unterwegs gewesen war, dabei habe ich gerade einmal ein zwei Drittel der Strecke geschafft.

Also auf, in die Pedale getreten und frisch ans Werk: So stürze ich mich in die Abfahrt, die mich sogleich nimmt, ich fühle, wie die Schwerkraft sich meiner annimmt, die Speedmachine an Speed gewinnt und wir gemeinsam bergab rollen. 50, 55 km/h gehen durch, Motorradfahrer überholen mich, schauen, geben Gas und entfernen sich röhrend. Aber ich, ich werde auch immer schneller - 60, 65 km/h stehen da, das Rad wackelt, zittert, wird unruhig, dabei aber stabiler. Ein seltsames, ein tolles Gefühl.

Tolle Wälder, immer mehr, tolle Berge, immer höher, tolle Tour!

Der Fahrtwind verschafft meinem verschwitzten Körper Kühlung. Fliegen zerschellen an meinen Waden, ich bin im größten Gang, kann aber nicht treten, da ich jenseits der passenden Übersetzungen bin. Schneller als meine Rohloff erlaubt.

Mir kommen ein, zwei, drei Rennradler entgegen. Carbon-Jungs in voller Kampfmontur. Sidi-beschuht mit Silberionen-Trikots und High-Tech Rädern vom Feinsten. In Deutschland sind sie zu 90% der "ich kenne nur mich auf der Straße"-Fraktion zugehörig.

In Kanada grüßen sie. Sie winken. Sie rufen "Good one!" und freuen sich. Verkehrte Welt, denke ich. Selbst Motorradfahrer grüßen mich. Ich mag es hier. Ein Grund mehr.

Hunger & Wind. Keine guten Aussichten in der guten Aussicht.

Ich komme gut voran. Die Abfahrt wird flacher, es geht nur noch mit einem geringen Gradienten bergab - aber immerhin, bergab. So kann ich mit beachtlichen 30 bis 32 km/h fahren, eine Wohltat und ein tolles Gefühl, nach diesem Höllenkrampf den Rogers Pass und dem kleinen (wie heißt der überhaupt?) Berg davor, die ich mit 8 bis 6 km/h hinauf gekrochen bin. Nun mit wenig Anstrengung Geschwindigkeiten um die 30 zu erreichen ist ein Hochgefühl.

Ich habe es mir ja auch verdient, denke ich.

Die Landschaft hinterm Pass hat sich wenig verändert. Immer noch prägen hohe Berge mit weißen Kuppen und dramatischen Flanken die Landschaft, dichte, sattgrüne Wälder umschließen den Highway, es herrscht wenig Verkehr.

So finde ich schnell in einen runden Tritt. Und schieße durch die Natur. Die Sonne brennt, kann mich aber nicht mehr abschrecken. Nichts hält mich auf. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht heute. Ich habe den Rogers Pass bezwungen - ich habe ihn niedergerungen, platt gemacht. Entgegen aller hochgezogenen Augenbrauen, entgegen aller Beileidsbekundungen - ich bin rüber, bin durch. Durchmarschiert.

Noch 35 km bis Revelstoke. Wow, denke ich. Das war es schon? Noch eineinhalb Stunden und ich bin da? So schnell?

Zu früh gefreut: Ein Hungergefühl überkommt mich. Mit einem mal. So, als habe man den Stöpsel einer Wanne gezogen - leer gesogen, der Magen. Leer. Nicht einmal für ein Knurren reicht es. Es tut nur noch weh. Hungerast.

Und ich weiß, was nun kommt: Gefürchtet, selbst Tour de France-Profis kennen das. Kaputt. Schlapp. Von jetzt auf gleich. Hungerast. Tod des Radfahrers. So halte ich an und versorge mich mit einem PowerGel und den letzten beiden Riegeln in der Hoffnung, doch noch einen Schub zu bekommen.

Ich fahre weiter. Leidend, denn so sehr ich es auch wünsche, selbst das 3 Dollar-PowerGel ist kein Zaubertrank. Und dann kommt der Wind. 13 Uhr. Der Nachmittag hat begonnen. Die Rockies beginnen zu pusten. Ihr Atem bewegt Luftmassen, kreiert starke Strömungen aus O2. Gegenwind, für mich. Bremst mich, macht mich wütend. Laugt mich aus.

So beiße ich die Zähne zusammen und streite mich mit den widrigen Umständen um die letzten Kilometer nach Revelstoke, meinem Ziel. 25. 20. 15 Kilometer.
Die Schilder machen Hoffnung.
Schmeicheln mir.
Grüßen mich wie süße Erinnerungen an eine schöne Geliebte.

Und dann, dann endlich fahre ich an dem einen Schild vorbei, für das ich heute morgen aus dem Bett gestiegen bin: "Welcome to beautyful Revelstoke".

Ich finde mein Motel. Zuerst nicht. Die Straßenangabe in Google Maps war falsch. Anstatt mitten in der kleinen Stadt liegt das Super 8 direkt am Stadtrand. Was mir auch okay vorkommt: So verspricht es ruhige Nächte abseits vom Trubel und zudem mag ich es, auch mal ein wenig zu Fuß unterwegs sein zu können.

Frisch gebadet, wie Gott mich schuf: Schlemmen bis es nicht mehr geht.

Ich checke ein, freue mich, kaufe beim 15 Minuten entfernten Safeway-Supermarkt allerlei Essen und Getränke und mache mir - natürlich nicht ohne vorher ein ausgiebiges, heißes Bad genommen zu haben - einen schönen, langen TV-Abend vor dem Flatscreen.

Morgen ist mein Ruhetag und so habe ich keine Eile. Ich sitze da und schreibe Tagebuch. Sitze da und schreibe SMS an die Lieben daheim. Sitze da und massiere meine pulsierenden Waden und esse dann und wann von meinen Leckereien: Fruchtsalat, Riesensandwhiches, Chips (gegen den Salzverlust), Kakao (für die Proteine) und allerlei anderes.

Und das beste kommt noch: Heute habe ich irgendwo im Wald eine Zeitzonengrenze durchfahren. Aus 17 Uhr wird 16 Uhr. Eine Stunde geschenkt. Eine Stunde zahlt mir Kanada zurück. Wiedergutmachung für die Strapazen. Oder Vorauszahlung für Kommende?

So schreibe ich noch Tagebuch - gleich ist romantischer TV-Abend angesagt.

So lasse ich diesen Tag ausklingen. Wasche meine Klamotten, die ich tropfend im ganzen Zimmer aufhänge, bestätige noch einmal per E-Mail meinen Termin für morgen und lege mich, nachdem ich alle meine "Pflichten" erfüllt habe, ins Queen-Size Bett, schalte den großen Flatscreen an und genieße meine Lieblingscomedy, schaue CNN und erfreue mich an absurden amerikanischen Werbespots.

So muss das sein.

Gefahren: 154,62 km in 5:59 h und 25,28 km/ Schnitt bei einer Höchstgeschwindigkeit von 69,29 km/h.