No Rafting in the Wirtschaftskrise

Tag 7: Ruhetag in Revelstoke

Ich wache auf. Nicht, weil ich besonders gut geschlafen hätte. Nein, das kann man nicht unbedingt behaupten. Denn, obwohl ich dem Super 8-Motel, das an sich modern, gepflegt und sehr sauber ist, den Marketing-Trick mit Google Maps verziehen habe (man hat die Adresse einfach falsch eingegeben, sodass Maps einen in die Innenstadt lotst, obwohl das Motel am Stadtrand, ja, am Waldrand ist), muss ich nun fluchen.


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Nicht der Adresse trauen: Am Punkt A ist keineswegs das Motel. Schön zentral und gut, sondern an Punkt B.

Waldrand ist ja okay. Eigentlich ist Waldrand super, aber nicht, wenn zwischen Wald und Rand noch ein Rangierbahnhof ist. Und so knallt, schiebt, rumort, röhrt, motort und knattert es bis spät in die Nacht. Und ich träume von ellenlangen Güterzügen, die ich mit meinem Liegerad eine steile Steilung hinaufziehen muss, den Rogers Pass, ich allein, einen Güterzug, träume ich und träume und träume mich in die Geräuschkulisse, strample, trete und mühe mich ab, während draußen in der echten Welt die Geräusche meinen Traum nur noch befeuern. Schweißgebadet wache ich auf und fühle mich wie gerädert - draußen freilich, es ist 9 Uhr, ist die Rangierschicht zu Ende und alles wirkt ruhig und friedlich.

Naja, denke ich. Und stolpere zum Frühstück. Das Mahl der Könige, wichtigstes Essen des Tages, es gibt Kraft und Power, Kaffee weckt einen auf, leckere Backwaren geben eine Nahrungsgrundlage und ein zünftiges Müsli - wenns geht mit Obstsalat - liefert die Energie, die man braucht.

"Complimentary Breakfast", wie es solches im Super 8 gibt (und auch in Calgary schon gab) kann das alles nicht. Dünner Filterkaffee, seinen Namen nicht wert, Kellog´s Frosties und trockene Bagel mit einer (!) Sorte Marmelade aus Flugzeugdöschen. Ach schön. Denke ich. Und quäle mir eins der Bagel rein. Ist ja bezahlt ...

Heute ist mein Ruhetag Nummer 2. Und in alter, kanadischer Ruhetags-Tradition werde ich wieder was Schickes machen. Whitewater-Rafting steht auf dem Programm. Von Deutschland aus gebucht - alles fein. Um 11 Uhr geht es los.

Wenig später sitze ich mit 9 anderen Verrückten in einem riesigen, gelben Schlauchboot, mitten im Nirgendwo, kilometertief in der Wildnis, auf einem tobenden, wütenden Fluss, meine Arme schmerzen vom Rudern, meine Füße wie verkrampft in die Schlaufen eingehangen "Festhalten!", brüllt einer von hinten, "Festhalten! Und rudert, rudert!"
Dann wieder: "Links, mehr links, los macht schon!"
Der wilde Fluss schaufelt Wasser ins Boot wie nichts, mannshohe Wellen werfen uns von einer Klippe auf die andere, Bäume, Berge und Wälder fliegen vorbei, wir kommen uns vor wie Brustschwimmer, atmen ist nur stoßweise möglich, immer schneller, immer schneller, rasanter, brutaler werden wir geschlagen von den Wassermassen. Leute stöhnen, ächzen und jauchzen. Harte Stöße, Faustschläge aus H2O an meinem Helm, ich kann die Kamera mal getrost in der Tasche lassen, denn Fotos machen ist hier unmöglich.
Der Guide brüllt wieder, aber keiner hört ihn, vor uns tost ein Wasserfall, der Guide brüllt, gestikuliert wild, das Boot dreht sich, weil alle woanders hinrudern, vorne ragt ein von weißer Gischt wütend umspülter Felsen aus dem Wasser ... wir treiben auf ihn zu, Scheiße!, denke ich, dann kippt das Boot, ich werfe das Paddel weg, halte mich fest, es gibt nur nichts zum festhalten, jemand klammert sich an mein Knie, reißt mein linkes Bein aus der Schlaufe, das Boot bäumt sich auf, steht senkrecht, bunt leuchtende Körper mit aufgerissenen Augen und Mündern fliegen um mich herum aus dem Gummi, dann auch ich, fliege, fliege ... kaltes Wasser ... ich gehe unter, das Tosen ebbt kurz ab im Gurgeln, dann komme ich an die Oberfläche, wir treiben neben dem Boot, das auf dem Rücken liegt. Der Guide ist schon wieder obenauf, wird es umdrehen. Wir schreien wie Wilde, wir jauchzen und yeahen uns das Adrenalin aus den Lungen. Adventure-Grinsen auch bei mir. Glück, Endorphine bis zur Unterkante, die Kälte im Fluss macht mir nichts ... Wow, was für ein Ritt denke ich ... denke ich ...

"I´m Sorry, Lars.", sagt einer am Telefon, "I don´t have enough Bookings for today so there will be no Rafting. I´m very sorry." Die Agentur wird mein Geld rücküberweisen. "In the Crisis, we don´t get too much Guests, so, today is no Tour, I´m afraid. But you can try tomorrow?"

Nee, danke, sage ich, tomorrow bin ich schon wieder unterwegs.
Nun ist das imaginäre Wildwasser-Rauschen vollends aus dem Kopf verschwunden.

No Rafting in the Wirtschaftskrise, Ruhetag im Eimer. Was für ein Mist! War eine schöne Idee. War ein schöner Traum ... So nice.

Und so gehe ich erst einmal wieder in mein Zimmer und widme mich dem Frustsaufen. Sehe eine leckere Sojamilch, die ich mir gestern geholt habe. Mmmh, das ist jetzt das Richtige, denke ich, ein Liter feinstes pflanzliches Protein.
Ein Liter.
Ein ganzer, leckerer Liter.

Ich setze an, trinke und trinke und trinke und ... stutze. Ein Liter? Ich schaue genauer hin. Und muss wieder meinen Kopf schütteln. Diese Amis. Nein, halt, in Deutschland ist doch vor kurzem auch das Verpackungsrecht geändert worden - es gibt also keine festen Größen mehr.

Und so halte ich hier keine 1-Liter-Packung Sojamilch in den Händen, sondern ein sage und schreibe 946 Milliliter großes TetraPak. Aha. 54 ml gespart und verdient. Kapitalismus, du bist am Ende! Ist ja geradezu lächerlich.

Na, da hat sich das Produkt-Marketing ja richtig mal was ausgedacht ... Kopf schütteln und weitermachen.

Nur was?

Nachdem ich von meiner 2-stündigen Entdeckungstour durch Revelstoke zurück bin, lasse ich mich enttäuscht in mein Bett fallen und widme mich den Fressereien.

Der Ort selbst ist klein, fast alle Geschäfte haben geschlossen, was daran gelegen haben mag, dass das Zentrum komplett von Baggern zerfressen und aufgerissen ist und nicht viel mehr bietet als eine laute Baustelle mit verschwitzten Bauarbeitern.

Ansonsten hat mich das Eisenbahnmuseum wenig gereizt. Und auch das lokale Baseball-Highschool-Team konnte mich nicht länger als ein Inning lang begeistern.

So liege ich ab 16 Uhr wieder im Queen Size-Bed, esse mich dick, zappe zum x-ten Mal die 400 Kanäle durch und beginne, mich bereits jetzt von Revelstoke zu verabschieden und die morgige Etappe im Kopf zu planen.

Das Streckenprofil verspricht 4 knackige Anstiege, 3 von denen hässlicher, langer Art sein werden. Ansonsten werde ich wohl an einem See entlang fahren. Ich freue mich. Freue mich, dass es endlich losgeht und dieser unsägliche Ruhetag, den die Wirtschaftskrise mir versaut hat, ein Ende hat!


Noch ein Schluck aus meinem "Vitamin Water" - DAS neue Wellnessgetränk hier in den Supermärkten. Es sieht aus wie Medizin, es gibt es in den verschiedensten Geschmacksrichtungen und "Indikationen". Ich habe das Grüne.

"Rescue", steht da.

Genau das Richtige. Morgen werde ich ge-rescued. Von meinem großartigen Liegerad. Von meiner Speedmachine, die mich hier heraustragen wird. Schnell, elegant und wunderbar.