Fast Transit und Front-Wind

Tag 8: Revelstoke - Salmon Arm

Mein Ruhetag hier war in Reinfall. Ein kompletter Absturz, eine echt nervige Sache. Ein ganzer Tag verschwendet. Ein ganzer Tag in meinem kostbaren Urlaub - im Klo herunter gespült. Mehr als CNN und "Two and a half Men" schauen war nicht drin.

Was sollte ich auch sonst tun? Selbst ein zweiter, sehr langer und ausgiebiger Rundgang durch den Ort hat nichts gebracht, was man hätte tun können: Eine Wanderung habe ich in Banff schon gemacht, der Sinn nach einem wieteren Berg stand mir dann doch nicht. Das Eisenbahnmuseum ... naja, das macht dann vielleicht mal Spaß, wenn ich einen kleinen Sohn habe. Und mehr, man glaubt es kaum, mehr bietet das Örtchen eigentlich auch nicht.

Ach man - ist das etwa Regen? Na herrlich, meine erste Regenetappe steht an!

Und so freue ich mich, als ich - natürlich nach einer durchrangierten Nacht - heute aufwache, die Jungs vom Güterbahnhof haben mich sage und schreibe ein, zwei Stunden schlafen lassen, und ich mir der Tatsache bewusst werde, dass es heute weiter gehen wird. Heute geht es wieder back on track, on the road again. Mein Element.

Ich ziehe in großer Erwartung die Vorhänge beiseite und ... sehe Regen. Scheiße! Ach schön, denke ich, meine erste Regenfahrt also. Das wäre ja auch zu schön um wahr zu sein - nur gutes Wetter, nur weil ich hier bin, nur weil ich Urlaub habe?

Ich labe mich träge an schnödem Frühstück. Unmotiviert und etwas grummelig schiebe ich mir ein schweres Zwiebel-Bagel mit Erdbeer-Marmelade rein und besitze nicht einmal genug Kraft, mich darüber aufzuregen, wie man Zwiebel-Bagel und Konfitüre anbieten kann.
Der Kaffee ist scheußlich - die gewohnt dünne amerikanische Plörre - aber wenigstens heiß.

Schnatternd sitzt eine chinesische Familie neben mir. Sie haben richtig aufgetafelt, ihr Tisch quillt über vor Bagels und Konfitüren. Naja.

So steige ich ein paar Minuten später aufs Rad, schiebe hinaus in den wolkenverhangenen Himmel und bin jederzeit darauf gefasst, dass es anfängt zu regnen.
Was es aber nicht tut.

Na, wohl doch kein Regen. Dafür drückende Schwüle und ein herrlich leerer Highway.

Statt dessen ist es unglaublich schwül hier im Tal. Es ist zwar erst kurz nach 9 Uhr morgens, aber jetzt schon fühle ich die unglaublich gesättigte Luft Wasser in meinen Lungen ansetzen. Es scheint, als zerschneide ich mit meinem Liegerad massive Wellen aus feinem feuchten Dampf.

Es regnet nicht. Es regnet nicht, obwohl keine 200 m über mir - die Spitzen der mächtigen Berge verdeckend - dicke, dunkle Wolken hängen, die so schwer vor Wasser scheinen, dass man Angst bekommt, sie fielen jeden Moment auf einen herab.

Doch nichts passiert. Im Gegenteil - sobald ich den ersten Anstieg hinter mir und das Tal, in dem Revelstoke liegt, verlassen habe, reißen die Wolken auf und Sonnenstrahlen tanzen auf grünem Wald.

Die feuchte Schwüle lässt den Wald besonders würzig duften - gerade jetzt, da noch kein Truck die Luft verpestet. Lecker!

Und darüber, so muss ich zugeben, kann ich mich nun allemal nicht beschweren. Da hat der Revelstoker Kessel doch tatsächlich wie in einer riesigen Wanne die Regenwolken gefangen. Und keine 5 Kilometer entfernt ist nichts von der dunklen Bedrohung mehr zu spüren. Fantastisch, diese Wettereigenheiten hier in den Rockies ...

Ich komme sehr schnell voran, obwohl sich eine Steigung mit der nächsten die Prozente in die Hand gibt. Schnell habe ich mich meiner vorsorglich angezogenen Jacke entledigt und spüre den feuchten warmen Fahrtwind im Gesicht. Die Beine spielen heute wieder großartig mit - nach der Enttäuschung gestern ob des nicht stattgefunden habenen Ruhetages (mit Whitewater-Rafting) scheinen die Muskelstränge froh zu sein, nun wieder für kräftigen Vortrieb sorgen zu dürfen.

Steile Hänge - blaue Flüsse und Seen. Kanada ist hier hinter Revelstoke wieder besonders schön.

Und schon wieder verändert sich die Landschaft. Nach etwa 20 Kilometern senkt sich der Highway auf Bodenniveau ab und es gibt kaum noch Steigungen. Ich folge dem Verlauf eines - für kanadische Verhältnisse - träge dahinplätschernden Flusses entlang von steilen, aber nicht mehr so brutal-schroffen Bergen.

Ein Touristenhinweisschild, von denen die kanadische Regierung ein paar hier hat aufstellen lassen (was echt hilfreich ist, denn sonst würde man so einiges verpassen hier) klärt mich darüber auf, dass ich hier klein in das Three-Valley-Gap einfahren würde.
Das klingt nett, denke ich, schaue auf meiner Karte nach und sehe, wie sich hier an diesem Punkt tatsächlich drei Täler treffen und eine interessante Aussicht bilden.


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Ich komme an einem riesigen Hotel entlang, das an dem ebenso riesigen See steht. Ein Werbeschild wirbt für einen halbstündigen Rundflug durch das 3-Valley-Gap per Helicopter für nur 100 CAD. 60 Euro - für eine abenteuerliche, geniale, halsbrecherische Jagd durch diese engen Schluchten an Bord eines Heli?
Da bin ich dabei!

Ich bremse, halte an, rolle zum Office - und lese, dass die erst ab 11 Uhr beginnen würde. Too late, wie immer für mich. 11 Uhr, da will ich mich der Hälfte meines Tagespensums nähern. Immerhin - und das darf ich nicht vergessen, ist heute erst der erste Tag von drei Tagen, bevor der nächste Ruhetag kommt.

Zwar schrumpfen die Etappen bis dahin auf täglich 110 km zusammen, aber das ändert nichts an den teilweise furchterregenden Höhenprofilen. Und so muss ich die schöne Idee vom Heliflug leider begraben und weiterfahren. Unerledigter Dinge.

Es scheint, so denke ich, als würde sich Kanada meiner verwehren. Zumindest, was die Erlebnisse abseits von Liegerad und Trans Canada Highway angeht.

Und so trete ich rein, lasse das Riesenhotel - das mich unwillkürlich an Neuschwanstein erinnert - hinter mir und beschleunige schnell wieder auf die schöne Reisegeschwindigkeit von 30 km/h.

Als sich meine Blase meldet, entdecke ich zu meiner Verwunderung just in diesem Moment einen der spärlich vorhandenen Rastplätze mit einem kleinen WC. Und wieder anhalten, nun wirds aber höchste Zeit ...

Nein, das ist kein Klo.

... denke ich, nähere mich dem Klo-Häuschen, beginne schon, meine Klamotten pinkelklar zu machen, als ich das Hinweisschild lese. Nein, denke ich, das hier ist definitiv kein Pinkelhäuschen. Hier, so lese ich auf dem Schild, werden ganz andere explosive Dine getrieben.

Aber nicht weit von dort lasse ich der Natur in der Natur freien Lauf. Hier ist es eh viel schöner - wild romantisch fallen aus dem wie ein Urwald anmutenden Bergrücken alte Stämme, wahrscheinlich über die Jahre von immer neuen Schneeschmelzen hinabgespült - in den See und formen so ein sonderbar anmutendes Gelände. Fast fühle ich mich wie in einer anderen Zeit, wie bei den Indianern. Wie damals, als man noch nicht Forstwirtschaft betrieben und den Wert eines Baumes in Dollar an der Rohstoffbörse gehandelt hat.

Ich atme tief durch, esse eine Banane und fahre weiter. Noch viele, viele Kilometer liegen heute vor mir.

Da macht die Rast doch doppelt Spaß - in der Natur sitzen, Power-Riegel essen und mit sich, dem Wald und in Gedanken versunken allein sein.

So kann ich nach einigen Minuten wieder ganz befreit reintreten. Und finde auch ohne Probleme wieder in den Tritt. Ich denke nach über dieses komische Gefühl in meinen Beinen und über meine Sucht, ja, Sucht, so würde ich es nennen, nach diesem Gefühl: Wenn es brennt, so richtig weh tut, wenn ich sie spüre, jede einzelne Faser meines Körpers, wenn ich Schmerzen habe.

Von denen ich aber nichts spüre. Schmerzen, die mir nichts tun, weil sie mich befriedigen. Ist es das, was meine Freunde mir immer gesagt haben, wenn sie mich zum Joggen animieren wollten? "Du musst das nur lange genug durchziehen - irgendwann tut es nicht mehr weh.", haben sie immer gesagt. Ich habe es eine Weile durchgezogen - aber aufgehört hatte es nie. Ich schätze, ich bin kein Jogger.

Aber hier, beim Radfahren, da fühle ich so etwas ähnliches: Es hört zwar nicht auf, weh zu tun, aber es fängt an, sich gut anzufühlen. Guter Schmerz. Befriedigender Schmerz.

Erfrischend, riesig, einfach fantastisch: Einer der vielen Seen, an denen ich auf dieser Etappe vorbei komme.

Wie in einem See, so gehen die Schmerzen unter, werden überschüttet von, ja von was? Von Endorphinen? Von Glück und Erfüllung? Fast scheint es so. Fast scheint es, als sei mein Körper süchtig nach diesem Kneifen, dem Ziehen und Zwicken, den schweren Beinen, den brennenden Venen.

Fast scheint es, als schreien meine Lungen danach, sich heißzupumpen, als würden meine Füße sich sehnen, nach immer den gleichen Tretmustern. Bin ich pervers? Bin ich süchtig?

Vielleicht, resümiere ich und ergötze mich am fantastischen Ausblick - was kann es schöneres geben, als durch eine so grandiose Natur zu fahren, mit eigener Kraft und vollgepumpt mit eigenproduziertem Glück?

Und wie verblichen - jetzt schon - die erst 2 Tage alten Erinnerungen an die Quälerei den Rogers Pass hinauf, ja, schon abstrakt das, was ich keine 48 Stunden zuvor erlebt habe: Realer Schmerz, nurmehr geschrumpft auf bloße Worte: "Ja, das tat weh.", würde ich sagen, fragte mich jemand. Aber fühlen, fühlen tue ich den Schmerz nicht mehr. Hinweggefegt, ausgelöscht aus meinem Hirn.

Ich liebe diesen Sport!

Kann man sich vorstellen, wie das hier noch vor 200 Jahren ausgesehen haben mag? Kein Asphalt, keine Straße, kein Mensch. Herrlich.

Und ich liebe diesen Urlaub. Mit jedem Meter, den ich fahre, mit jeder Umdrehung, die ich kurbele, wird mir klarer und klarer, dass dies die richtige Entscheidung war. Fragen wie: "Willst du das Geld nicht lieber sparen?" oder "Muss das sein?" kann ich getrost wegfegen und sicher antworten: Es ist mein Traum. Und es wäre töricht, ihn nicht wenigstens zu versuchen zu leben.

Hier draußen, hier draußen interessiert kein Dispo, in den ich ja auch immer tiefer rutsche, mit jeder Kurbelumdrehung. Hier interessiert kein Bausparvertrag, den ich auflösen musste, um das hier zu bezahlen - und warum?

Weil ich glücklich bin.

Plain and simple. Ganz einfach: Es ist dieses tiefe, echte und ehrliche Glück, das mich durchströmt, während ich unter Kanadas Sonne und zwischen Kanadas Bergen liegend hindurchfahre.
Kein künstliches Konsumglück, kein Betäuben durch sinnlose Anhäufung materiellen Schwachsinns. Das hier ist mein ganz persönliches, mein ganz intimes, mein ganz eigenes Glück. Nichts, nichts auf der Welt kann diesen Zustand nachstellen oder synthetisieren.

Und ich frage: Ist es dieses ehrliche Gefühl nicht wert, eine virtuelle Zahl, wie den Dispo wenigstens für 3 Wochen mal links liegen zu lassen? Ich, für meinen Teil, kenne die Antwort schon.

Erinnern mich immer wieder, dass das Wetter bestimmt auch ganz anders kann - tief hängende Wolken küssen einen Berg.

Und so gleite ich immer tiefer in die Täler und Wälder. Frische Wolken liebkosen die saftig begrünten Berghänge. Es ist warm, Luft kondensiert, bildet harmlose, weiße Wölkchen, die mich begleiten.

Die mir vielmehr entgegenfliegen - denn ein stetig anschwellender Gegenwind macht sich immer mehr bemerkbar. Schon fluche ich auf mich, ob meiner restlos unheilbaren Romantik von eben. Und fluche gegen den Wind, trete im Frust und beginne wieder, die Vorteile des nackenschonenden Liegeradfahrens zunichte zu machen, indem ich mich verkrampft gegen den Wind stemme, mich festklammere am Lenker und immer agressiver in die Kurbeln trete.

Ich muss mich zur Ruhe zwingen - gegen den Wind, so mache ich mir klar, wird auch mein stärkstes Treten nichts ausrichten können. Und, so fordere ich mich auf, ich müsse mich mit ihm arrangieren. Denn schon seit Jahrtausenden, wenn nicht Jahrmillionen, schwillt hier in diesen Täldern ab Mittag der Wind an. Daran wird auch ein zänkischer Lars nichts ändern können.

Hat mindestens 3 Anläufe gebraucht, dieses Foto einer "lockeren, gar nicht gestellten Vorbeifahrt" ...

Dann und wann geht es bergab. Dann genieße ich es, lehne mich ganz zurück und kann endlich entspannen - aber auch dann, so ertappe ich mich, kann mein anderes ich, das "Marketing-Ich" kaum loslassen. Denn ich weiß, dass daheim, in ein paar Wochen, an die 2.000 Leser monatlich in meinen Blogs wissen wollen, wie das so war, in den Rockies.

Und sie wollen es nicht nur lesen, sondern auch sehen. Und so passiert es, dass ich hin und wieder anhalte, den Timer meiner selbstauslösenden Kamera anstelle, die paar Sekunden ausnutze, zu meinem gepackten Fahrrad zurück renne, das ich vorher natürlich ein Stück zurück - bergan - geschoben und die Pedale auf schnellstmögliches Einklinken gestellt habe, mich in den Sitz fallen lasse, versuche, mit dem ersten Antritt gleich die Füße in die Pedale einzuklinken, loszurollen und ein möglichst normales Gesicht zu machen - nur, um Euch, meine verehrten Leser, eine Fotografie wie die dort oben präsentieren zu können.

Die, so sie erfolgreich geschossen wurde, Euch suggeriert, dass ich vollkommen entspannt und relaxed den Berg herunter rolle, den ich mich vorher so schweißtreibend hinaufgeschoben habe.

Dieses eine Foto zu machen kann dann schon mal drei bis vier Anläufe brauchen - manchmal komme ich nicht schnell genug in den Sitz, dann wieder verliere ich das Gleichgewicht oder bin zu schnell an der Kamera vorbei.

Harte Arbeit also - und, ohne Euch zu enttäuschen - alles für eine heile, perfekte Blog-Welt. Aber auch das ist der Trip: Die Kreation dessen, was bleibt. Fotos, Worte und Erinnerungen.

"Avalanche Area" - nicht anhalten!

Der Wind drückt mich, wirft mir alles entgegen, was er hat (hier jedoch irre ich mich, wie ich in einigen Tagen och werde feststellen müssen) und versucht, mich die Berge wieder rücklings hochzuschieben. So, als wolle er den orangefarbigen, liegenden Eindringlich ausweisen.

"Gehe doch hin, wo du hergekommen bist!", faucht er mir wütend in die Ohren und schlägt mir seine Breitseiten ins Gesicht. Doch sie verfehlen ihre Wirkung - verschaffen sie mir doch willkommene Abkühlung.

Und, so denke ich, solange ich nicht unter 25 km/h rutsche, denn alles unter 25 ist inakzeptabel, ist es nicht so schlimm. Sobald ich an den steilen, manchmal senkrecht zur Straße stehenden Felswänden entlangschramme, hört der Wind auf, führt der Highway zur Mitte des immer breiter werdenden Tals hin, verschlimmert sich die Situation.
Ein weiterer Punkt für meine meteorologisch höchst bedenkliche Theorie vom Rocky-Mountains-Wind, denke ich, und trete rein.

In meiner Seitentasche wähne ich noch ein leckeres Thunfischsandwich, das fällt mir gerade ein, und ich freue mich, denn auch mein Magen meldet langsam bedenklich leere Füllstände an. Und nun ein leckeres Protein-Brot, das wäre es doch?!

Enges Tal wird weites Tal. Gas geben auf schnurgerader Strecke. Wenn nur der Gegenwind nicht wäre.

Ich schaue auf den Bike-Computer und möchte mich vergewissern, dass ich schon Pause machen darf. Ich habe meinen Rhythmus: Alle 30 Kilometer bei "kleinen" 100er-Etappen, alle 50 Kilometer bei den großen, langen Etappen.

Eine erlösende 55 steht da und ich beschließe, dass ich mir och 5 Kilometer gönne, bevor ich anhalte und das Sandwich vertilge. Da plötzlich schieße ich mitsamt des Liegerads durch eine enge, sich nach links windende Abfahrt. Es geht giftig - mir zur Freude - bergab. Aber nur kurz, gerade mal um einen Berg herum. Und zack - wieder überraschen die Rockies - ändert sich hinterm Berg die Landschaft völlig: Ich fahre in ein weites Tal von 10 bis 15 Kilometern Breite ein.

Der Highway wird schnurgerade, ganz so, wie ich es seit der ersten Etappe von Calgary nach Banff nicht mehr gesehen habe. Er verläuft nun ganz auf Bodenniveau, fast eben, nur kleine, unbedeutende Wellen stören die Sicht auf eine ansonsten wie mit einem riesigen Lineal in die Landschaft gelegten Straßenverlauf.

Die Berge sind nun nicht mehr in unmittelbarer Nähe. Und obwohl hier links und rechts des Tals noch Höhen von leicht über 1.000 Meter erreicht werden, erscheinen sie nun gar nicht mehr so hoch - welch´ Kontrast zu den einen erschlagen wollenden, senkrechten Felswänden von vor 2 Kilometern.

Gerader Highway, denke ich, High-Speed-Highway, perfekt für einen langen, runden Tritt. Scheiß auf 5 Kilometer-Pause! Ich trete rein. Zwar beutelt mich arg der Wind, aber ich beschließe, ihn zu ignorieren. Nur selten kann mich eine kleine, seitliche Böe aus dem Konzept bringen und so stürme ich in der nächsten halben Stunde mit knappen 28, 29 km/h durch die Ebene.

Bis eine 80 auf dem Bike-Computer steht und die Beine so brennen, dass sie fast das Leeregefühl im Magen übertünchen. Also gebe ich beiden nach und - wie immer, wenn man ihn braucht - bietet sich mir ein Rastplatz an.

Ein Päuschen bei lecker heißem Thunfischsandwich mit heißer Apfelschorle. Herz, was willst du mehr?

Ich sehe ein paar Touristen-Busse, Horden von jüngeren und älteren - meist älteren - Touris stürmen aus ihrer klimatisierten 4-Sterne-Blechbüchse und stürmen das Sanitärgebäude.

Wir haben Halt gemacht an einem "Place of Interest", wie das Informationsschild des kanadischen Verkehrsministeriums informiert. Der Platz nennt sich "Last Spike" und ist als kleines Freilichtmuseum hergerichtet.

Der Last Spike, so lese ich, als ich mein nunmehr durch die stundenlange Bestahlung in meinen schwarz-heißen Seitentaschen gar gewordenes Thunfisch-Sandwich esse, war der letzte Bolzen, den die Arbeiter 1885 einschlugen, um den Schienenstrang, der Kanada mit seiner ersten Ost-West-Eisenbahnverbindung vereinte.
Ein alter Waggon, eine Gedenktafel und viele verblichene Fotografien künden von dem denkwürdigen Ereignis.


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Komisch, denke ich, als ich die komisch schmeckende, lauwarme Masse versuche, mit noch wärmerer Apfelschorle hinunter zu spülen, ich habe in diesem Land, das per Eisenbahn erobert und besiedelt wurde, noch nicht eine Eisenbahn gesehen.
Naja, ich habe sie zumindest gehört, denke ich, gestern, als ich schlafen wollte ...

Eine Frau kommt zu mir herüber, grinst mich an und ich denke, na hossa, nun kommt bestimmt eine dieser klugen Liegerad-Fragen (von denen mein Berliner Speedmachine-Freund Olli noch immer die beste hat: "Kann man damit fahren?", aber das nur am Rande). Aber sie geht an mir vorbei zum Eimer.

Eimer, öffentliche Eimer, sind in Kanada bärensicher. Man muss in einen schmalen Schlitz fassen, einen kleinen Hebel hochdrücken und dann eine recht schwere Klappe öffnen, um sich seines Mülls zu entledigen - unmöglich, selbst für den gelehrigsten Meister Petz.

Die Grinsefrau schafft es aber auch nicht. Ich will ihr sagen, wie es geht, mein voller Mund hindert mich jedoch daran, also kaue ich schneller - was bei der ehrlich ekelhaften Masse im Mund gar nicht so einfach ist, weil es echte Überwindung kostet - und setze schon an, ihr im einfachsten English zu erklären, wie es geht, als sie mir zuvorkommt und über den Rastplatz zu ihren Freunden ruft: "Sooche ma - wie gejd´n dös hiaaar?" schallt es in schönstem Sächsisch durch die kanadischen Weiten.
Fast wäre mir der Thunfisch aus dem Mund gesprungen.

Dann zieht eine noch lauter schnatternde Horde Asiaten, die einem futuristisch geformten Bus aus der Zukunft mit den silbrig glänzenden Star Trek-Lettern Supervacation entstiegen sind, meine Aufmerksamkeit an sich.

Um diesen "Place of Interest" zu besichtigen, auszutreten, 200 Fotos zu machen und noch einen Happen zu essen benötigen sie ganze 3 Minuten. Im Staub ihres Superbusses, der bis übermorgen wahrscheinlich in San Francisco sein wird, verlasse auch ich den Rastplatz. Satt zwar, aber kulinarisch wenig begeistert.

Und so kämpfe ich mich wieder durchs weite, weite Tal. Und muss mich wiederum mit einem anschwellenden Wind abmühen. Es ist kurz nach 13 Uhr und die Rockies werfen den Generator an.
Leider erfrischt die harte Brise kaum mehr, da es sich nun auch die Sonne überlegt hat und auf mich herunter knallt, als gäbe es kein morgen mehr.

Keine halbe Stunde später leide ich. Schwitze wie eine Kuh und mühe mich durch eine Böe nach der anderen.

Ein Gruß aus der Heimat - ich liebe Kanada, aber ich vermisse mein Hamburg. Ein bisschen.

Es ist meine nächste Pinkelpause, die mir den Rest gibt: Kaum sitze ich wieder im Sitz der Speedmachine, schließen an dem kleinen Bahnübergang, an dem ich mich gerade keine 50 m abseits des Highways meiner urinalen Fracht entledigt habe, die Schranken.

Ein etwa 8 Jahre langer Güterzug - und endlich sehe ich im Eisenbahnland mal einen - rattert gemütlich an mir vorbei. (Was dann auch den Beweis erbringt, dass hier in Amerika ein Aufspringen auf Züge kein Western-Märchen, sondern bis heute rein technisch kein Problem darstellt)
Ich war gerade dabei meiner Lieblingskollegin daheim, die sich wohl gerade bettfertig machen wird, eine SMS zu schreiben, wie sehr ich sie vermisse, wie sehr ich die Agentur vermisse, wie sehr ich Hamburg vermisse - als ich sehe, dass dieser ellenlange Güterzug in zwei Etagen über und über mit den wunderschön leuchtenden Containern der Hapag-Llloyd aus - genau - Hamburg beladen ist.

Es wird mir warm ums Herz, kein Joke, ich grinse, ich muss schlucken, ich schaue mir die Container genau an. Und freue mich. Und mache Fotos, wie ein Trainspotter, der gerade eine seltene Baureihe entdeckt hat und das alles für seine Sammlung festhalten muss - ich aber fotografiere hier ein Stück Heimat.
Ein Stück Zuhause.

Vor ein paar Wochen noch haben diese Metallkisten in Steinwerder auf dem Kai gestanden, dort, wo ich keine 300 Meter entfernt immer meine Feierabendrunde beginne. Und nun sind sie hier, rollen an mir vorbei, winken mir und grüßen mich, ich grinse und grüße still zurück.

Und meine SMS fällt etwas emotionaler aus, als geplant.

Back on track, erleichtert, etwas melancholisch, in Gedanken versunken, so rolle ich zurück auf den Highway. Die Erfrischung der kleinen Pause ist nach 100 Metern schon wieder verflogen - so heiß brennt heute die Sonne. Es braucht keine paar Umdrehungen und schon bin ich wieder nass geschwitzt.

Der Kilometerzähler sagt noch 30 Kilometer, eine gute Stunde, naja, vielleicht eineinhalb, denke ich, reiße mich zusammen und versuche, gegen den immer stärker wehenden Wind anzutreten und wenigstens auf 26 km/h zu kommen.

Auch der Verkehr, das fällt mir erst jetzt auf, ist stärker geworden - Dicht an dicht reihen sich Trucks und die unvermeidbaren PickUps, rußen die schöne Umgebung voll und machen, das mir die Lungen brennen.

Einige Hinweisschilder erwecken meine Aufmerksamkeit: "It´s your Choice!", steht da ganz groß. Es ist meine Entscheidung, ja klar, was denn - Fahren ohne Drogen? Ohne Alk? Nein, ganz und gar nicht: "It´s your Choice: Vancouver via Hgwy 97 or Trans Can".
Aha. Okay, denke ich, eine Kreuzung angedroht bekommen habe ich auch noch nicht. Amerika, da ist es wieder, dieses schrullige, komische Amerika.

Oh Canada, Our Home and Native Land - die kanadische Hymne kann ich zwar nicht - dafür die U.S.-amerikanische, die ich leise vor mich hinsumme. Hoffentlich hörts keiner ...

Und wie bestellt komme ich an "Canada´s tallest Flagstaff" vorbei. Eine riesige kanadische Flagge weht träge im Wind - kaum zu glauben, dass es selbst dieser starke Luftstrom, der mich so heftig ausbremst, kaum vermag, das schwere, riesige Stofftuch mit dem Ahornblatt zu bewegen.

Ich grüße und salutiere in Gedanken, beschließe noch einmal, dass mir dieses Land ganz außerordentlich gefällt, und widme mich wieder der Straße.

Es flimmert auf dem Asphalt. Die Autos scheinen zu glühen. Mein Rücken fühlt sich an, als läge er in Wasser, so sehr schwitze ich und langsam komme ich mir vor wie ein Weltraum-Gestrandeter, wie Luke Skywalker auf Tattooine, wie Robinson auf seiner Insel - allein. Allein, obwohl ich alle Minute von einem Auto überholt werde.
Allein, weil mein Herz so schwer ist, wie meine müden Beine.

Noch 15 Kilometer. Und ich beginne, langsam die Nase voll zu haben. Wo ist denn endlich Salmon Arm?

Irgendwann ist auch die schönste Etappe nervig ... und so sieht das dann aus.

Der Ort meiner Träume lässt sich bitten. Vielmehr frage ich mich, ob die Leute von der Kommunalverwaltung einen kleinen Scherz mit den (Rad)Touristen treiben. Denn auf das Ortseingangsschild und eine recht prunkvolle "Welcome to Salmon Arm"-Blumenbegrüßungsanlage folgt erst einmal kilometerlang nichts.

Außer ein schnurgerader und einigermaßen steiler Anstieg, den ich mich etwa 20 Minuten lang mit heiß brennenden Beinen hinauf kämpfen muss, in der prallen Sonne, und beginne, zu zweifeln, ob ich es überhaupt bis zu meinem Bed & Breakfast schaffe: Verlockend reiht sich ein Motel an das nächste, "Hot Tubs" oder "Indoor Pools" anbietend.
Aber ich beiße die Zähne zusammen und kurbele weiter. Eine Kurve, ein kleines Wäldchen, rechts geht der Highway 1 weiter, links kann man auf den Highway 97 abbiegen, was ich aber nicht will.

Die Fahrt entlang des Shuswap Lake endet und endet und endet nicht. Rechts neben mir am Ufer reiht sich eine dieser riesigen holzverarbeitenden Fabriken an die nächste - tausende massiver Stämme schwimmen zu Monsterpaketen geschnürt im Fluss, es riecht nach Harz, nach Sägespänen. Lecker, denke ich, blicke nach vorn, nach oben und sehe einen Riesenberg und hoffe - nein, ich bete - dass ich da nicht auch noch rauf muss.

Dann begegne ich einem verstörenden Verkehrsschild, das mir wieder vor Augen führt, dass Amerika nicht nur ein anderes Land, ein anderer Kontinent ist, sondern eine komplett andere Kultur. Was man - unter anderem - auch daran festmachen kann, dass niemand in Deutschland ein Warnschild wie dieses aufstellen würde: "Wenn Kinder auf der Autobahn sind, bitte nur 50 km/h fahren."

Konnte ja damals bei der Planung keiner ahnen, dass das billige Grundstück für die Grundschule direkt am Highway liegt.

Den Riesenberg muss ich nicht hinauf, wie sich heraus stellt, denn die nie enden wollende Fahrt endet dann ganz schnell, ganz abrupt, als ich auf einmal, wie vom Navi gelenkt, abbiege, den Highway verlasse, einmal links, einmal rechts und bremse. Und parke. Vor dem Hospital Heights B&B. Wow, das war unerwartet, aber erfreulich. Etappe zu Ende, denke ich, erhebe mich ächzend aus dem Sitz der Speedmachine und klingle.

Niemand öffnet, also schleiche ich ums Haus - ein großes, schönes, amerikanisches Haus - und entdecke im Garten den Herren der Hütte arbeiten - Drew heißt mich herzlich willkommen und bietet mir sogleich das kleines Gartenhäuschen an - vielmehr meinem Liegerad, das er interessiert betrachtet.
Er sagt, er hätte einem Freund, einem holländischen Reverend, Bescheid gesagt, dass ein Liegeradler aus Deutschland kommen würde. Der Reverend fahre auch Liegerad (klar, als Holländer muss er das ja auch) und würde mich gern kennen lernen. Klar, freue ich mich.

Mein Zimmer ist im Keller des Hauses. Es ist klein, schmucklos und etwas eng, hat aber alles, was ich brauche: Ein sauberes Bett und ein Bad. So dusche ich ausgiebig und wundere mich über Drews Klo: Es ist das erste (und einzige) europäische Klo, das ich auf meinen mittlerweile 6 Reisen nach Nordamerika gesehen habe. Ein klassischer Tiefspüler mit Spülstopp. darüber hat Drew eine Anleitung gehangen, um die "fremde Technik" zu erklären: "It might seem alien to you, but this WC can save a lot of water!", steht da.

Fast ehrfürchtig ob der grünen Attiüden der Bryants, die das B&B betreiben, dusche ich wassersparend, gehe wassersparend pinkeln und mache mir einen wassersparenden Drink.

Leider stellt sich heraus, dass der liegeradelnde Reverend dann doch nicht kann, also entspanne ich mich nach einem ausgiebigen Spaziergang durchs - wirklich nette - Salmon Arm, einer Stunde bei leckerem Macchiato im Park, einem ausgiebigen, großartigen Thai-Food-Abendmahl und dem obligatorischen Power-Riegel-Einkauf für die morgige Etappe bei den Bryants auf der großen Terasse. Um in den Pool zu hüpfen ist es zu kalt, dafür entspinnen schöne Gespräche zwischen den beiden Hausherren und einem anderen Gast, Debbie.

Sie wollen alles wissen. Über mich, meine Reisen, mein Liegerad, wie das denn so sei, wie das denn so war ... "Oh, my gosh! You did the Rogers Pass?!?" ... und wohin mich diese Reise noch verschlagen würde.

Wie ein Star komme ich mir vor, wie Lance Armstrong oder Jan Ullrich. Naja, nicht ganz, denke ich, verabschiede mich früh und massiere mir vor dem Einschlafen noch die Waden.

Gefahren: 103,44 km in 3:46 h und wahnsinnigen 27,45 km/h Schnitt.

Heute war es hart, sagen mir meine Muskeln, aber nicht so hart, antworte ich ihnen. Stimmt, sagen sie, zucken und befürchten, dass die wirklich großen Brocken erst noch kommen. Und Recht haben sie, denke ich beim Einschlafen, aber die, die kommen bestimmt nicht morgen.

Hoffe ich.