The great Up and Down

Tag 11: Merritt - Hope

Ich trete schnell in einem ruhigen Tritt. Meine Kadenz ist hoch, ebenso, wie meine Geschwindigkeit. 35 bis 37 km/h sind kein Problem - die Straße hier ist eben, vielleicht ein wenig abschüssig, aber auf keinen Fall geht sie bergauf.

In meinem Rhythmus trete ich mich vorwärts, meine Schenkel machen mich stolz, wie sie da vor mir, Pleuelstangen einer Lokomotive gleich, kraftvoll auf- und niederstampfen, die Kette konstant gespannt und die Rohloff hinter mir am Surren haltend. Der Wind in meinem Gesicht ist stark - aber es ist nur der Wind, den ich beim Gleiten durch die Luft als Widerstand spüre, von Gegenwind ist hier keine Spur.

Die Sonne scheint zwar, keine Wolke trübt den Himmel, doch ist es angenehm kühl, sodass der Schweiß verdampfen kann und ich keinerlei Probleme habe. Ich fühle mich gut, liege entspannt im Sitz meiner Speedmachine und fege durch ein seichtes, grünes Tal. Neben mir, dicht an dicht, stehen die Pinien, sie duften harzig und wild, irgendwo, fernab röhrt ein Hirsch, ich fahre an einer Wasserstelle vorbei, dort steht Familie Petz, trinkt und fischt nach Lachs, sie sehen mich, drehen sich um und winken. Und rufen "Gute Fahrt, mein Lieber!"
Ich winke zurück, will sie noch im Rückspiegel sehen, als ich statt dessen des Blaulichts gewahr werde.

Die Polizei holt auf, heulend nun, die Sirenen, die roten und blauen Rundumleuchten blenden mich, sind ohrenbetäubend laut. Ich fahre ganz dicht nach rechts, möglichst weit an den Split-Streifen heran, mache mich dünn, ganz dünn, sodass sie mich schnell überholen können. Werde langsamer, schaue in den Rückspiegel, aber sie überholen mich nicht, nähern sich langsam, da kommt es laut und blechern aus den Lautsprechern: "Pull over! Stop! Now!!"
Ach du Scheiße, denke ich, die meinen mich?
Die meinen mich!

Ein Mounty steigt aus. Roter Rock. Er setzt sich den bekannten Hut auf, zu groß, denke ich, eine Nummer zu groß - er wirkt wie ein Sombrero. Der Polizist kommt auf mich zu, langsam, die Hand am geöffneten Halfter. Was wollen die von mir? Ich bin nur ein Radreisener, und ein ganz Harmloser noch dazu.

"Don´t you know that cycling on this part of the Trans-Can is forbidden?", brüllt er mich an, "Do you know how terrible you would end if one o´these Truck hits you?"
Äh, mmh, stammle ich.
Verboten, hier? Ich dachte, das wäre nur zwischen Kamloops und Merritt, nicht aber hoch nach Hope so?
"You are wrong!", sagt er knapp. Schaut streng und hart aus eisenen Augen, die schon Dinge gesehen haben, an die sich wahrscheinlich noch nicht einmal die Drehbuchautoren von CSI wagen.

Ich winde mich, versuche, ihm klar zu machen, dass ich mir dessen nicht bewusst war, dass ich vorsichtig bin, ständig ein Auge im Rückspiegel habe und auch ganz bestimmt aufpasse. Meine Mutter sei auch Cop und deshalb passe ich schon von Hause aus auf ...

"Your Mom is a Cop?", fragt er da.
"Yeah, she retired recently.", antworte ich. Da sehe ich, wie er seine Denkanstrengungen, wie er mich nun schnellst möglich vom Highway bekommt, aufgibt. Er lächelt sogar, war das ein Lächeln? Okay, meint er, du fährst bis zur nächsten Ausfahrt - da fährst du runter. Und er belässt es bei einer mündlichen Verwarnung.
Meine Mom solle ich grüßen.

Ich bin erleichtert. Froh. Phuuh, mache ich, gerade so geschafft. Der Mounty tippt an seine Mounty-Mütze und stiefelt zu seinem Trooper-Car. Noch rotieren die Rundumleuchten, noch, so denke ich, ist das ein super Foto für meinen Blog. Wo kann man schon mal eine Story vom netten Mounty erzählen, der einen auf der Autobahn mit dem Fahrrad erwischt hat?

Also hole ich - etwas versteckt - meine Kamera heraus, aktiviere sie, halte sie so vor mein Gesicht, dass sowohl ich, der Mounty und die Rundumleuchten drauf sind, drücke ab ... und es blitzt. Verdammt, denke ich, normalerweise fotografiere ich im Landschafts-Modus, das sieht immer besser aus als mit dem Auto-Mod... als der Mounty auf einmal brüllend von hinten angerannt kommt, mir die Kamera aus der Hand schlägt, etwas von "Get off the Bike!" brüllt, der Digital-Kamera hinterher hechtet, sie öffnet und den ganzen Film raus reißt, den ganzen, den Film, alle meine Fotos, 200 Stück bisher, alle Fotos, mattgrau schimmert der belichtete Film im Brüllen des Polizistens, er brüllt, fingert nervös an seinem Halfter herum, holt einen Taser raus, schreit immer wieder "Get down!" und ich, ich werfe mich zu Boden, spitzer Splitz steckt in meinen Wangen, er brüllt, ich nun auch ... ich ...

Wache auf. Endlich.
Was für eine beschissene Nacht!, denke ich, als ich mich schweißgebadet aus dem nassen Bett schäle. Kein Wunder, bei offenem Fenster zu schlafen war unmöglich - zu laut die Country-Music von gegenüber, zu laut die Besoffenen vor meinem Fenster.

Ach schön. Herrlich. 5 Uhr. Ich stehe um fünf auf!

Von einem bösen Traum in den nächsten: Früh um 5 Uhr erst einmal kalte Ravioli zum Frühstück. Was ist jetzt schlimmer?

Warum? Weil ich es heute unbedingt vermeiden will, wieder im Gegenwind zu fahren. Weil meine Beine so gummiartig sind, dass ich das nicht durchhalten würde. Deshalb möchte ich im kühlen, verkehrsarmen Morgen fahren und so viel wie möglich an Kilometern schaffen, was drin ist, bevor am Nachmittag wieder der Sturm losgeht.

Mein Motel bietet kein Frühstück, also mache ich mir meins selbst: Kohlenhydrate, ich brauche Kohlenhydrate, Massen. Und da ist das Beste: Pasta. Klaro, also mache ich mir erst einmal eine leckere Dose Ravioli auf. Kalt gelöffelt schmeckt das, um zehn nach Fünf, zu einem heißen, dünnen Ami-Kaffee, den ich mir gebrüht habe, am besten, denke ich, quäle mir die Teigtaschen rein und spüle mit einem Joghurt-Müsli nach.

Tatsächlich, ich bin satt.

Aber einen Hochgenuss möchte ich das nicht nennen. Und ob die Pasta heute Wunder wirken wird, das werden wir auch noch sehen.

Schläft noch nach einer Country-durchfeierten Nacht - Merritt im Morgengrauen.

Es ist nicht einmal eine Viertelstunde nach 6 Uhr morgens, als ich mein Liegerad hinaus steuere. Es ist ein schöner Morgen - nicht so spektakulär wie in Banff, nicht so anbiedernd, wie in Golden und nicht so abweisend, wie in Revelstoke. Es ist ein schöner Morgen, weil es ruhig ist, weil die Luft eine Frische vermittelt, die mich an das feuchte Seeklima erinnert, nicht an die Landluft hier inmitten der Rockies in Kanada.

Ich freue mich, denn die Wolken, die den Himmel bedecken, sehen freundlich aus - sie halten die Sonne, die mir gestern den Morgen in der Steigung von Kamloops so unerträglich gemacht hat. Und sie sind freundlich, weil sie keinen Regen tragen. Perfekt.

Perfekt denke ich, klinke mich ächzend in die Pedale ein und fahre langsam, fast bedächtig los auf die leeren Straßen von Merritt. Es scheint noch alles zu schlafen. Ist heute Wochenende? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, jegliches Wissen über aktuelle Wochentage oder das momentane Datum. Ich weiß nur, dass ich vor zwei Tagen, als ich mit dem Durchfahren der Staatengrenze von Alberta nach British Columbia auch die Zeitzone gewechselt, eine Stunde bekommen habe.

Google hat für heute eine gute und eine schlechte Nachricht für mich parat. Die gute Nachricht ist, dass diese Etappe, nur ein bisschen länger, als die gestrige, wesentlich weniger komplex sein wird. Im Prinzip werde ich nur zwei Bewegungen ausführen: Es geht ein einziges mal bergan. Und dann geht es ein einziges mal bergab. That´s it.
Mehr nicht, plain and simple.

Die schlechte Nachricht an der Sache - es wird 80 Kilometer bergan gehen. Und so, wie es aussieht, ununterbrochen. Nur bergauf. Stetig, immer und immer - nur bergan. 70 Kilometer. 70.000 Meter.

Das sagt der Profilausdruck für heute. In der Steigung, die ich mir heute morgen beim italienischen Frühstück eindringlich angeschaut habe, erkenne ich zwei längere, fies aussehende, steile Rampen, eine bei etwa Kilometer 20 und die andere bei 30, 35. Na hossa, denke ich.

Aber die gute Nachricht, die gute ist, dass es die letzten 30 Kilometer nur noch bergab zu gehen scheint - und das von über 1.000 Höhenmeter auf knappe 200. 800 Höhenmeter auf 30 Kilometer. Das verspricht Fun.

Aber eben nicht, ohne vorher nicht auch etwas dafür getan zu haben.

Da wird es wohl viel, viel Zeit zum Nachdenken geben - gleichförmiges Bergauffahren.

Noch kenne ich den Namen des Passes nicht, den ich heute überfahren werde, als ich mich 10 Minuten nach Verlassen meines Motels auf dem Highway - übrigens noch immer der 5A, auf den Highway 1 werde ich erst wieder ab Hope treffen (der geträumte Polizist hatte also Recht behalten) - einordne und beginne, mich auf eine lange, anstrengende Tret-Orgie einzustimmen.

Ich nehme an, dass ich heute sehr selten in die hohen Gänge schalten werde. Ich nehme an, dass es heute eher nicht über die 15 km/h hinausgehen wird. Ich nehme an, dass ich heute eher kaum vom Fahrtwind gekühlt werde - ich stimme mich ein, auf viel Beinarbeit, auf hohe Kadenz bei geringer Geschwindigkeit.
Und eben das wird den Unterschied machen zu gestern, glaube ich noch, fest entschlossen, dass es das Unwissen, die Überraschung war, die mich gestern so aus der Bahn geworfen hat - das unerwartet Widrige.

Heute sehe ich die Schwierigkeiten kommen. Heute können sie mir nichts anhaben. Denke ich.

Und außerdem habe ich Pasta gefrühstückt.

Merritt erwacht - und ich bin längst schon hoch oben auf dem Highway.

Ein letzter Blick auf Merritt, das da unter mir liegt, als ich mich die Flanke des ersten Berges hinauftrete, ich kann ihn lange genießen, denn ich komme nur schwer vorwärts. Es ist dieser erste Anstieg, der mich an den Rand des Tales bringt, in dessen Kessel Merritt liegt.

Von Weitem kann ich kaum noch mein Motel erkennen, die Vought Street, die Hauptstraße, und weit weg, auf der anderen Seite den riesigen Fahnenmast, an dem gestern steif die Flagge im Gegenwind stand, der mich beinahe gekillt, ja gebrochen hätte. Und noch weiter weg, da hinten, rechts, im Morgendunst, das Tal, durch das ich gestern so mühevoll, so aufgeregt, so fertig halbtot und wütend gekommen war.

Ich hoffe, dass mich kein Schnee- oder Hagelsturm erwischt.

Ein Schild warnt mich irgendwann vor einer allen schlimmen Wettern ausgesetzten Höhenstraße und tatsächlich, schnell bin ich bei knapp 700 Meter über Meeresniveau angekommen und werde diese Straße immer um die 800 bis 1.000 Meter befahren.

Vor mir, das erkenne ich, sieht es anders aus, als noch gestern. Nichts mehr mit gefälliger, seichter Prärie. Das "Empire of Grass", ich habe es hinter mir gelassen. Vor mir liegen wieder die Bilderbuch-Rockies. Berge ab 1.000 Meter. Schneebedeckte Spitzen. Avalanche Areas und schroffe, raue Felsen. Bärengebiet.

Ich hoffe nur, dass das Schlimme-Wetter-Schild eher für die Wintersaison gedacht war und nur aus Kostengründen nicht auch im Sommer abmontiert wird. Und so fahre ich, leicht nach hinten gebeugt und komme mir vor wie ein Astronaut, der in stundenlang, manchmal tagelang seinem Space Shuttle hockt, der Countdown wird x-mal verschoben, immer wieder von neuem - Spannung, Routine, Arbeit, und ... liegen.

Das Wetter ist hingegen fantastisch. Es ist genau so, wie es sein muss: Recht kühl, genug Sonne, um meine Stimmung aufzuhellen, ohne mich zum Schwitzen zu bringen. Und obwohl ich hier nur mit 11 bis maximal 15 km/h voran komme, habe ich weitaus besseres Gefühl, als gestern.

In seichten Kurven und mit nicht allzu hartem Gefälle geht es stetig bergauf.

Ein bessereres Gefühl als gestern, weil ich mich leichter fühle, befreiter fahren kann. Es verwundert mich, es erstaunt mich, wie sehr viel leistungsstärker ein Körper ist, wenn er leistungsbereit ist. Kann das sein?

Überlege ich mir so, während ich in einen runden, fast schon gemütlichen Tritt finde. Ich schone meine Kräfte, gerade heute, da die Kilometer kaum im Hochgeschwindigkeitsritt nur so dahinschmerlzen werden, gerade heute, da es nur einmal rauf und ein mal runter geht. Ich habe ein As im Ärmel - morgen ist Ruhetag. Morgen, wenn ich in Hope aufwache, werde ich nicht früh morgens mit Sorge vor Regen zum Himmel blicken, mir nicht meine Radlerklamotten überstreifen und auch nicht den ganzen Tag über nur Bananen und Power-Riegel essen müssen.

Morgen gibt es Ausschlafen. Morgen gibt es Essen im Restaurant. Morgen gibt es einen tollen Ruhetag, denn, ich habe etwas Spezielles vor.

Viel Zeit zum Nachdenken, da die Strecke wenig anspruchsvoll und die Geschwindigkeit sicher und niedrig ist.

So vergeht die Zeit dann doch irgendwie wie im Fluge. Ich taste mich die Berge hoch. Direkt in die Flanke dieses Tals geschnitten, windet sich der Highway mal rechts herum, mal links herum.

Ein paar Autos, die mich überholen, hupen, Arme werden aus Fenstern hinaus gestreckt und ich sehe "Thumbs up". Das spornt an.

Meine Laune, Gott, meine Laune ist um Längen besser als gestern. Und wieder frage ich mich, woran das liegen kann: Denn viel leichter als gestern geht es nun wirklich nicht bei meinem langen Marsch zum Gipfel dieser Etappe. Zudem stecken mir heute schon sechs Etappen in den Beinen - gestern waren es nur fünf.

Und wieder kreist dieses Wort "Leistungsbereitschaft" in meinem Kopf. Vielleicht war es das, was mein Sportlehrer früher immer meinte, wenn er mir beim Sprint ins Gewissen redete, dass ich so viel schneller sein könnte, wenn ich nur "leistungsbereit" wäre.
Nur, wie dieses abstrakte Wort mit Sinnhaftem, mit Praktischem füllen?
Und, selbst wenn es verinnerlicht ist, wie denn dann diese Bereitschaft herstellen?

Ist vielleicht auch die Höhensonne und die dünnere Luft der Grund dafür, dass in mir Hochgefühle ausgelöst werden?

Es ist eine dieser zaghaften, kaum merklichen Abfahrten - keine 400 Meter lang und auch nur unwesentlich schnell - die ich nutze, um darüber nachzudenken. Was hat mich gestern so aus der Bahn geworfen? Was hat mich so fertig gemacht?

Zunächst einmal, erinnere ich mich, war da die Arroganz. Tödlich in allen Lebenslagen, steht sie einem nie gut zu Gesicht. Mir meiner selbst viel zu sicher, abweisend und besserwisserisch habe ich mich zu sehr in Sicherheit gewogen, habe ich mich zu sehr auf meine (ja doch eher bescheidenen) Erfahrungen mit Kanada verlassen, als dass ich den Beiden im B&B genau zugehört hätte.

Und mit der Arroganz kam die Sicherheit. Diese trügerische Hure, die einen einlullt, einen ganz und gar betäubt, die - so hat man das Gefühl - einen abhärtet und abschottet gegen das Gewäsch von denen da draußen, die einen in Wahrheit aber entscheidend schwächt.

Kleinere Pässe sind die seltenen Gelegenheiten, einmal ein Päuschen im Schatten zu machen.

Und dann, als ich mir meiner so sicher war, das nichts und niemand an meinem Ego hätte etwas ausrichten können, dann kam der dritte Aspekt, die dritte Stufe zu meinem Scheitern: Die Wahrheit. Die Überraschung.

Wie eine Offenbahrung, wie eine perfekte Falle, die nun zuschnappt, wie ein Plan, der aufgeht schlug sie zu, diese Steigung. Und wie in einer dionisyschen Tragödie hat mich diese Steigung aller sicher geglaubten Erfahrungswerte beraubt, war all das nicht, was Steigungen bei mir bisher waren: Sie war nicht einfach mal so zu meistern, sie war nicht endlich, absehbar und sie war nicht mit kühlem Schatten gespickt.

Sie hörte und hörte einfach nicht auf. Eine Rampe geschafft, gefreut, gehofft - um die Kurve gefahren und in der nächsten Rampe stecken geblieben. Wie eine Lektion, wie harte Strafarbeit, wie das Mantra einer sich immer und immer wiederholenden Predigt. Prozent an Prozent, so wurde ich aller Sicherheit beraubt.

Doch der Zynismus blieb mir, bis ich oben war. Lakonisch, mich selbst schon aufs Korn nehmend, kommentierte ich insgeheim den Vorgang, versuchte, noch im härtesten Schmerz das Witzige zu sehen - und bekam, als ich oben war, obsiegt hatte und innerlich triumphierte, dann erst Recht die Rechnung: Den Wind.

Rampe in Sicht: Einer der scharfen, steilen Zacken auf meinem Google-Profil. Jetzt heißt es cool bleiben.

Heute, so merke ich, können mir selbst die härtesten Rampen nichts anhaben. Das fällt mir auf, als ich dem Highway folge, wir auf einer Brücke das Tal durchqueren und vor mir, in einer lang gezogenen Linkskurve die Straße ansteigt.

Von Weitem sieht dieser Anstieg harmlos aus. Fast wie weißes Geschenkband, das jemand um den Berg drapiert hat. Aber ich weiß es besser: Dies wird eine harte Rampe werden, und noch dazu eine lange.

Aber was ich auch merke ist diese sonderbare Stärke, diese Gelassenheit, Radfahr-Zen, könnte man es nennen: Kein zynischer Kommentar käme mir über meine gedanklichen Lippen, kein arrogantes Abtun dieser Steigungsprozente - statt dessen konzentriere ich mich. Ich analysiere meine Kraftreserven, scharf kalkulierend, bereits geleistete mit noch vor mir liegenden Kilometern vergleichend errechne ich meinen Rhythmus für das zu Schaffende.

Respekt? Ja, klar. Aber keine Angst. Wer Angst hat, sollte sich diesen Herausforderungen nicht stellen.

Und als die Rampe näher kommt, ich dieses riesige, breite Asphaltband steil vor mir aufragen sehe, mittlerweile in der Sonne dampfend, da begreife ich, was die wahre Lektion meiner Tour de Force gestern war: Bewusst-sein.

Vielleicht ist es das, was ich lernen sollte: Niemals so nebenbei das tun, was man tut. Niemals einfach so, schlacksig, unvorbereitet und mit einer na-wird-schon-Attitüde an die Dinge gehen, die man schaffen will.

Das gilt für das ganze Leben, denke ich, aber speziell auch für das Radfahren. Das hier ist mitnichten ein Radabenteuer á la "Ab ins Unbekannte". Was ich hier treibe, ist weder extrem noch etwas Besonderes. Diese Strecke haben vor mir schon Tausende bewältigt und es werden nach mir auch Tausende schaffen. Aber - und hierauf kommt es an - es ist nichtsdestotrotz eine Prüfung, die volle Aufmerksamkeit verlangt.

Auch wenn der Highway eine Straßenqualität mit Formel-1-Niveau bietet. Auch wenn ich jede Nacht in einem sicheren, weichen, warmen Bett schlafen kann. Auch wenn die Steigungen - und sind sie noch so hart - nicht einmal annähernd an Alpenpässe oder pakistanische Bergrouten heranreichen - dies hier ist ein Grenzgang. Und genau so sollte ich auch an jede Etappe heran gehen.

Lockere Pause auf der Autobahn - in Deutschland sicher Selbstmord.

Ich denke nach, als ich am Fuße der Rampe eine Pause mache. Der Tag heute, beschließe ich, eignet sich hervorrangend zum Nachdenken. Was die Strecke an Gleichförmigkeit vorgibt - ich fahre 75 Kilometer nur bergan - kann ich in meinen Gedankengängen nachvollziehen.

So denke ich über mich, meine Einstellung und meine Kräfte nach. Kraft. Was für ein Ausdruck. Auch wieder so ein Haus, das gar keins ist, meine ich. 65 Kilo wiege ich. Wenn ich satt gegessen bin. 65 Kilogramm auf einer Körpergröße von 1,86 m. Das ist nicht viel, manche würden sagen, ich sei krank. Untergewicht habe ich in jedem Fall.

Und? Was sagen diese Zahlen? Was bedeutet es nun, dass ich mit meinem BMI von 18 als untergewichtig gelte? Nichts. Es besagt rein gar nichts darüber, was ich leisten kann. Und was ich nicht leisten kann. Es sagt nichts über mein Essverhalten und es sagt schon gar nichts über mich als Person.

"Du bist aber dünn!" Wenn ich jedes mal in meinem Leben nur 1 € für diesen Satz bekommen hätte, wäre ich jetzt Millionär (und auf einer Weltumradelung). Schon in der Schule musste ich es immer allen beweisen.
Und dann standen sie da, diese Idioten, und mussten im Sportunterricht sehen, dass Spacko ihnen davonlief, sie beim Klimmziehen auszählte, beim Weitsprung ganz vorn landete.

Und heute? Heute fahre ich an einem Wochenende 450 Kilometer. Heute fahre ich eine 1.300 Kilometer-Tour in 10 Etappen durch eines der größten Gebirge der Welt. Untergewicht? Sagt gar nichts aus!

Zen-Lehrstück par excellence - der Larson Hill grüßt mich, seinen Namensvetter. Und ich danke für die Lektion.

Ich komme oben an. Zumindest beim gefühlten Oben, denn ich weiß, dass es erst ab Kilometer 75 wieder bergab gehen wird. Dieser Berg, den ich hier gerade mit 7 km/h umrundet habe, dessen nie enden wollender Gradient mir die Waden brennen lässt, der sich wieder mit der Sonne verbündet hat, die mich unaufhörlich bombardiert, dieser Berg, ich habe ihn fast nicht gespührt.

Habe ihn weggeatmet. Weggekurbelt. Wo ich gestern eine Armada von Schimpfworten und Fäkalbeleidigungen in die Steigung gebrüllt hätte, bin ich heute, so scheint es, fast schmerzfrei, weil gedanklich woanders, hinaufgetragen worden. Velo-Zen. Da ist er wieder.

Und ich freue mich, als mir der Gott der Steigungen, vielleicht als Zeichen, vielleicht als Anerkennung meines Sinneswandels, ein Schild vor die Nase stellt, das mich informiert, dass dieser Berg, diese Steigung, meinen Namen trägt: Larson Hill.

Ich grinse, bin zufrieden - und fahre weiter bergauf.

Geschafft: Oben! Nur noch nackter Felst trennt mich vom Himmel. Unter mir nichts als Höhenmeter.

Da wird es plötzlich kalt. Und karg. Neben mir tauchen nackte, schroffe Felsen auf, keine Bäume mehr, kein Gras. Ich merke, wie ich zittere, wie ein scharfer, kühler Seitenwind, der mich schräg von vorn trifft, scharf wie ein Messer, nein, wie tausend Nadelspitzen mir durch alle Poren meiner Klamotten tritt und auf meiner nassen Haut Unangenehmes anstellt.

Ich zittere wirklich, jede Umdrehung wird schwerer und ich merke erst jetzt, wie weit oben ich tatsächlich bin. Unten, wenn mal kein Auto neben mir auf der Fahrbahn ist, kann ich in die Mitte des Highways steuern und nach links in den Abgrund schauen, unten sehe ich Bäume winzig klein, sehe ich das Tal, durch das ein kleiner Fluss sich schlängelt, er glitzert in der Sonne. Eine Sonne, die hier oben keine Macht mehr hat. Wieder trifft mich ein Windstoß und treibt mich zurück zum äußersten Rand der Fahrbahn.

Ich schaue auf meinen Bike-Computer, eine 78 steht da. Und nun wird es mir klar: Ich bin auf dem Dach dieser Etappe. Ich bin wohl ganz oben. Bin angekommen. Bin am Ziel, habe es geschafft - der Anstieg ist beendet!

Düster wie im "Herr der Ringe" - der Pass ist überwunden.

Und wie zur Bestätigung flacht hinter einer Kurve die Strecke ab. Ich fahre auf die Kuppe eines Berges zu, die nur wenige hundert Meter über mir endet, ja, tatsächlich, hier ist der Pass, entscheide ich.

Ich werde etwas schneller, aber der unangenehme Gegenwind treibt mir Schauer durch meine mit Gänsehaut überzogenen, nackten Beine. Dunkle Wolken, feucht und schwer, ziehen nur wenige Meter über mir, so scheint es, zum Greifen nahe, über den Berg. Sie regnen sich nicht ab, vielmehr sammeln sie sich, denke ich, sammeln sich hier, verabreden sich, noch weiter zu treiben, schließen einen Pakt mit dem Wind, der sie irgendwo hin transportieren wird, auf dass sie ihre Fracht dort über - zum Beispiel einsamen Radwanderern wie mir - abladen können. Vielleicht über Einem, der auch noch seine Regenlektion bekommen muss?

Ich fahre auf ein Schild zu, das ziemlich schmucklos, auf Halbmast, so scheint es, am Rande des Highway aufgestellt ist, und lese: "Coquihalla Pass-Gipfel: 1.288 Meter." Tatsächlich, ich bin oben!

Der große Zacken auf meinem Profilausdruck, ich habe ihn gemeistert. 80 Kilometer nur bergan. Geschafft. Der Riesenzahn, der diese Etappe ist, ist zur Hälfte befahren. Ich halte an, trinke in stillem Sieg einen Schluck aus meiner Flasche, genieße die kurzen Sonnenfunken, die durch die winzigen Wolkenlücken auf meiner Sonnenbrille tanzen, friere und realisiere allmählich, was nun folgen wird: Die Abfahrt!

Noch habe ich Zeit, ein Foto zu machen - gleich geht es achterbahnartig bergab. Aber Hallo!

Ein Luftstrom trifft mich, als ich am Schild vorbei gleite, ein leichter, fast warmer Strom feuchter Luft, eine andere, als die, die nur 100 Meter hinter mir von den Wolken der anderen Seiten über den Gipfel getrieben wird. Von vor mir, von unter mir, aus dem Tal weht sie empor - würzig, beinahe verschwenderisch warm, es riecht nach Wald, nach Wachstum.

Ich bin noch ganz überwältigt von der Kraft dieser anderen Luft, die mich umschlingt, mich in ihren Bann zieht - sind das da kleine Wassertröpfchen auf meiner Brille? Mein Zittern endet abrupt, ich muss weniger treten, es scheint, als werde ich gezogen, ein Sog, ein Strudel dieses satten Grüns da unter mir, die Wälder, dichteste Vegetation, überbordend in die steilen Hänge des Tals gepfropft, zu viel, denke ich, barocke Natur, und so überraschend, ist doch nur wenige Kilometer hinter mir, auf der anderen Seite des Berges nurmehr ein kläglicher Abklatsch dieses fast urwaldartigen Bewuchses übrig.

Das Liegerad deutet nach unten.
Ich senke die Nase.
Tretlager voran tauche ich ab.
Der Run beginnt.

Jetzt heißt es Festklammern - der Ritt beginnt!

Durch die feuchte Luft, die mir das Atmen schwer macht, schieße ich bergab. Es beginnt ganz harmlos. Mit einem Schild, auf dem steht, dass ich als Truckfahrer bitte schleunigst in der nächsten Haltebucht meine Bremsen zu checken habe.

Dann, ich habe mittlerweile auf 40 km/h beschleunigt, folgt ein Schild, das vor einem "Steep Descent ahead" warnt, das nächste Schild, noch größer, noch gelber, noch warnender, bringt die frohe Kunde von 14% Gefälle auf den nächsten 17 Kilometern.

Und bevor ich "Yeah!" sagen kann, hat die Speedmachine auf 60 km/h beschleunigt.
Und nun wird es ernst.

Ich klammere mich am Tiller-Lenker fest, der durch die Splitsteine, über die wir fliegen, anfängt, sehr hart zu ruckeln. Ich muss mich konzentrieren - allen Steinen kann ich nicht ausweichen, aber wenigstens den großen, denke ich mir und versuche, bei ... oha! ... 70 km/h zu manövrieren. Was natürlich Wahnsinn ist.

Sieht wieder mal harmlos aus - aber hier geht die Luzie so richtig ab!

Ich tauche ab nach unten. Die Luft um mich herum wird wärmer, aber das merke ich schon bald nicht mehr, denn die Geschwindigkeit fordert meine ganze Aufmerksamkeit - neben mir überholen mich Autos - sie sind nicht viel schneller als ich - da sehe ich im Rückspiegel den ersten Truck kommen. Riesig, silbrig füllt er bereits den Spiegel aus, dann höre ich das Heulen und Mahlen seiner brutalen Reifen neben mir, er zieht an mir vorbei, ich wackle, schaue auf mein Tacho - 72 steht da - dann erfasst mich der Windschatten, das Knallen in meinen Ohren verstummt, der Druck auf dem Gesicht nimmt plötzlich ab, als ich in die gegenwindfreie Zone eintauche - und dann einen Satz nach vorn mache.

76 km/h steht auf meinem Bike Computer, atemlos, konzentriert, mit zusammen gekniffenen Augen schieße ich die Schräge hinab, Tränen sammeln sich am Rande meiner Brille, formen sich zu Tropfen ehe der Wind sie davonreißt.

Ich krampfe mich an den Hörnchen meines Lenkers fest. Das Knallen in den Ohren, das rasende Sausen der Rohloff im Freilauf, das hohe Summen meiner Reifen unter mir und fern, fern, das Rauschen des Verkehrs ergeben eine Sinfonie des Speed.

Es ruckelt und reißt an meinem Lenker. Ich zittere und wackle, unruhig hin und herfliegend schießt das Rad dicht an der Betonbegrenzung vorbei. Autos auf der anderen Seite - Flug durch ein Asteroidenfeld, denke ich unwillkürlich, TIE-Fighter des Imperiums verfolgen mich.

Bergab, berga,b bergab - die Schräge endet nicht. Sie scheint vom Dach der Welt zu führen. Die Meter kaum mehr wahrnehmbar.
Kilometer zerschmelzen in Minuten.
Zeit wird zu Speed.
Speed wird zum Rausch.

Hinter jeder Kurve geht er wieder steil bergab. Eine Tortur. Ein Genuss. Angst einflössend. Süchtig machend.

Ich schieße durch sattes Grün. Die Berge sind hoch, steil und dich bewachsen. Details nehme ich nicht war, alles verschwimmt zu einer einzigen, zuckenden grünen Masse. Die Speedmachine fühlt sich stabil an - und ist dabei so nervös. Da sich das Gepäck im Heck des Liegerades konzentriert, habe ich wenig Druck auf der Vorderachse. Zumindest bilde ich mir das ein, denn es scheint, als fühlte ich das Ungleichgewicht im Rad.

Ich rase förmlich die Abfahrt hinab, eine orange-farbige Pistolenkugel, ein Jagdfluzeug auf zwei schmalen Reifen. Ich nehme noch kurz im Augenwinkel einen Rennradler wahr, der sich die Steigung hinauf quält. Hinter ihm ein Begleitfahrzeug, der arme Mann tritt kräftig, fährt extrem langsam. Doch schon ist er vorüber, ehe ich winken kann.

"Irgendwann muss diese Abfahrt doch einmal enden?!", denke ich mir, tauche in die nächste Kurve und blicke in ein weiteres Tal, das da unter mir liegt. Das Rad senkt wieder die Nase, zeigt nach unten und wieder zieht mich die Erdanziehung automatisch nach bergab, beschleunigt mich. Mensch-Speedmachine werden schneller.

Speed-Rausch im Liegen.

Ich zittere. Nicht, weil ich friere, sondern weil es so anstrengend ist. Hier am Berg habe ich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 67 km/h. Das ist verdammt schnell! Die Spitzen bringen mich nah an die 80 heran, und obwohl ich es lieben würde, einmal die 80, vielleicht die 100er-Marke zu sprengen, habe ich immer unwillkürlich nur ein Bild vor Augen: Es ist ein Split. Ein Stein. Ein kleines, rundes Steinchen nur. Mit einer einzigen, klitzekleinen scharfen Kante - die genau von meinem Schwalbe Marathon Racer getroffen wird.

Der Reifen durchdrungen, der Schlauch perforiert und die Luft binnen weniger Sekunden entwichen: Das Hinterrad bricht aus, ich höre noch für den Bruchteil einer Sekunde, wie der Luftstrom um meinen Körper abreißt, als ich mich nach links kippend in die Horizontale begebe, dann schleift ächzend Aluminim funkenschlagend über den Highway, die Cleats entlassen meine Füße aus den Pedalen und ich stürze zu Boden. Meine Schulter trifft den Asphalt zu erst, kugelt aus, zersplittert, dann der Kopf, dann, Stoff schmilzt bei der Reibung zwischen Straße und mir, brennt sich ein in offene Wunden, mein Schädel, blutend, schlägt auf Stein, das Fahrrad trifft mich am Rücken und dann rollt ein tief und wild hupender Truck über mich, neun Achsen und mannshohe Reifen tun ihr furchtbares Werk.

An sowas sollte man nicht unbedingt bei einer 70 km/h-Abfahrt denken, denke ich, und reiße mich zusammen.

Alter! Das muss doch mal aufhören?

Doch dies ist keine allzu ferne Fantasie, ich wäre bestimmt nicht der Erste, dem ein Reifen platzt, und so rede ich mir ein, dass die 80 heute unangetastet bleiben soll, bremse dann und wann und versuche mir einzureden, dass 75 km/h noch zu kontrollieren seien. Was natürlich Blödsinn ist.

Die grüne Hölle des Coquihalla-Tals hört und hört nicht auf. Seit vielen Kilometern schon musste ich nicht eine einzige Umdrehung kurbeln. Ich stelle mir vor wie es sein muss, diesen Anstieg anders herum bewältigen zu müssen.

Wesentlich, wesentlich steiler, als die 80 Kilometer bergauf, die ich heute in den Beinen habe. Und oben angekommen, was wartet auf den Bezwinger des Passes? Eine viel seichtere, eine viel enttäuschendere Abfahrt, als diese hier.
Und es ist diese Erkenntnis, die mich zum ersten mal wirklich froh sein lässt, dass ich den Ost-nach-West-Weg gewählt habe. Nicht den Einfacheren anders herum.

Plötzlich macht sich meine Blase bemerkbar. Der lange Anstieg und einige Liter Apfelsaftschorle haben mich gefüllt. So halte ich am reißenden Fluss und genieße bei dieser kurzen Pause eine wunderbare Aussicht in die satte Natur. Vor mir beeindruckendes Rauschen von Millionen Liter Wasser, die hier donnernds in ihrem steinernden Bett zu Tale stürzen - hinter mir donnert ununterbrochen Highspeedverkehr über den Highway. Ich denke, nur ein Tal weiter, dort, wo kein Highway ist, muss das Paradies sein.

Ein Moment der Ruhe nach dem Pinkeln - wild-romantische Aussicht am Fluss. Großartiges Kanada, da ist es.

Google hat nicht gelogen. Es dauert noch über eine halbe Stunde, das Abfahrt-Festival. Zwar nicht mehr ganz so steil, kein Rausch der Geschwindigkeit mehr, aber ich kann konstant mit über 45 km/h fahren, rolle ruhig, schnell und sicher zu Tale, unten empfängt mich der Wald, Pinien reichen ausladend ihre Schatten spendenden Äste über die Fahrbahn, schwer vor dichtem Nadelbewuchs.

Einige Schilder erzählen über das Indianer-Reservat, in dem ich mich jetzt wieder befinde, kündigen Casinos, Handmade-Indian-Gifts und allerlei andere Services an, bis ich endlich ein Straßenhinweisschild sehe, das mich wieder ins Hier und Jetzt zurück holt - und mir zum ersten mal auf dieser Reise klar werden lässt, dass auch dieser Trip ein Ende haben wird.

Neben Hope, meinem Etappenziel für heute, steht da auch Vancouver. Und ab Vancouver, so fährt es mir durch den Sinn, sind es nur noch zwei Etappen. Und dann war es das auch schon wieder.

Kündigt vom sich nähernden Ende des Trips: Vancouver ist nicht mehr fern.

Aber erst, erst habe ich hier morgen einen freien Tag, fällt mir selbstmotivierend wieder ein. Erst habe ich hier gleich eine heiße Badewanne, füge ich hinzu. Erst bekomme ich hier etwas Tolles zu Essen. Also mal langsam mit der Melancholie.

Die Frische steht mir auf die Backen geschrieben. Etliche Speedkilometer am Pass, kühler, feuchter Gegenwind hat mir die Röte aufs Gesicht gepresst. Trocken sind die Klamotten - die Abfahrt muss wie ein Fön gewirkt haben. Meine Beine sind entspannt - fast schon zu entspannt, denn die heiß gekurbelten Waden sind nun, nach 30 Kilometern bergab ohne eine einzige Umdrehung, hart wie Stein. Der Motor ist aus.

Der Highway wird immer flacher. Die Berge rings um mich türmen sich immer höher - ich bin unten, denke ich, schaue in den Rückspiegel in der Hoffnung, diese Wahnsinnsabfahrt noch einmal zu sehen zu bekommen, doch ich erkenne nichts außer einer Wand aus grünem Berg.

Fast eben geht es durch ein tiefes Tal - Hope voraus.

So biege ich ab, als Hope ausgeschildert ist, kann mich nicht verfahren, denn mein Motel ist genau an der Hauptstraße. Zehn Minuten später habe ich mich spontan dazu entscheiden, nicht ins reservierte sondern im Nachbarmotel einzuchecken, denn das sieht wesentlich vertrauenswürdiger aus.

Es ist ein Best Western, das Heritage Inn. Freundlich werde ich begrüßt, schnell ist alles erledigt und ich bekomme meine Chipkarte. Als Wermutstropfen auch hier - kein Frühstück, kein Restaurant. Aber, so erklärt mir der Besitzer, es sei kein Problem, nur wenige hundert Meter die Straße entlang kämen Fresstempel - vom McDoof bis zum Restaurant würde alles geboten - vom Griechen "Mykonos" bis zum Sushi-Cicrle.

Na, das macht doch Hoffnung, den freien Tag hier zu überleben, denke ich und schiebe die Speedmachine in Richtung Zimmer.

Sogar mit deutscher Flagge begrüßt - das Heritage Inn ist mal ein Motel, das nicht schmuddelig ist. Super!

Dort angekommen staune ich erst einmal: So groß hatte ich mir mein Domizil nicht vorgestellt! Ein riesiger Flatscreen steht einer noch riesigeren Sitzecke mit einem pornoweichen Sofa gegenüber, mein kleiner Kühlschrank wird - ich werde sie noch gebrauchen können - von einer Mikrowelle flankiert und neben den obligatorischen Kaffee-Tütchen an der Mini-Maschine steht eine Flasche Mineralwasser bereit.

Ich stelle mein Liegerad ab und posiere und pausiere erst einmal für einige Minuten, die Etappe rekapitulierend: Ein mal bergauf, ein mal bergab. Das war das Programm heute.

Zurück vom Speedflug durch die Berge - der Testpilot freut sich, noch am Leben zu sein.

Und anders als die gestrige oder die Etappe davor, die einen wesentlich komplexeren Strecken- und Höhenverlauf hatten, war das heute eine der schwersten, aber durch den Dammbruch an Glückshormonen, der mich 30 Kilometer vor dem Ziel nicht nur mit Speed-Opiaten sondern auch mit Bergab-Endorphinen geradezu überflutet hat, denn dieser Abfahrt wegen wird sich - da bin ich mir sicher - die heutige Etappe in meinen Erinnerungen auflösen und was bleiben wird ist die Euphorie, die jetzt noch meine Kniescheiben zum schlottern bringt.

Die Härte des langen Anstieges wird gelöscht werden.
Der Schweiß, das Ächzen, die brenneden Lungenflügel und die blutenden Waden. Alles weg. Alles ersetzt und überzeichnet und übertönt von dieser rasanten Abfahrt, diesem König des Bergab, diesem wunderbaren, mitreißenden, faszinierenden und Angst einflößenden Coquihalla-Pass.


Gefahren: 123,39 km in 4:55 h und großen 25 km/h Schnitt bei verhaltensgestörten 76,09 km/h Maximalgeschwindigkeit.

Ich weiche in der Wanne ein, poste per Twitter auf meiner Website, angekommen zu sein und sehe, wie sich auf dem Wasser kleine Miniwellen kräuseln - erst da merke ich, dass mir Knie, die vor mir die schaumige Oberfläche durchbrechen, noch immer fast unmerklich zittern.

Sie sind wohl noch auf dem steinigen Seitenstreifen mitten in der Abfahrt.