Hard - but not Hardcore

Tag 3: Calgary - Banff

Yeah! Es geht heute aufs Rad! Ich wache auch und bin sofort auf 180. Grinse schon, ohne, dass ich überhaupt einmal aufgestanden wäre. Aber heute, heute ist the day - heute fahre ich meine erste Etappe!

Gegen 6:0 Uhr sitze ich im Frühstücksraum des Motels, in voller Montur versteht sich, und man staunt nicht schlecht, als man den Deutschen laut mit den Cleats klackernd am Cerealien-Büfett stehen sieht. Und während ich so da sitze und - mehr oder weniger hastig - mein Müsli kaue, kommt die Rezeptionsdame, fragt noch einmal mit drei Entschuldigungen nach, ob ich der deutsche Bicyclist sei und legt mir dann einen Brief auf den Tisch.

Es geht los. Noch etwas unsicher verlasse ich das Motel in Calgary. Wie wird die Fahrt auf dem Highway sein?

Der Brief ist von Pareen. In ihm bedankt sie sich noch einmal für meinen Aufenthalt und bedauert, dass sie gestern Abend nicht mit mir essen konnte. Und dann der Hammer: Die erste Nacht geht auf Kosten von Super 8, steht da.
Die Queen-Bed-Suite. Mein Rechenfehler-Tag. 160 Dollar. Bezahlen sie. Keine xtrakosten. Ich freue mich so, bedanke mich tausendmal bei den Mädels und hoffe, nicht zu vergessen, mich zu bedanken.

Und dann geht es auch schon los - wenige Minuten später ist alles verstaut, gepackt, gesichert und bereit. Ich liege im BodyLink-Sitz meiner Speedmachine, die Sonne steht gerade grell über den flachen Dächern des Motels, als ich die ersten Kurbelumdrehungen mache und vom Hof des Super 8 rolle. Alle anderen schlafen noch. Ich winke der Rezeption, dann fahre ich durch das Tor, biege links ab und stehe an der Auffahrt zum Highway-Zubringer.

Und so ruhig soeben noch das Motel war - um so mehr Trubel findet sich auf der Straße wieder: Drei Spuren vollgestopft mit Autos, PickUps und Trucks. Morning-Rush-Hour vom Feinsten. Ich komme mir etwas verloren vor. Mein Herz pocht. Das ist er also, der Moment, denke ich. Der Moment, an dem ich auf den Trans Canada Highway fahre.

Die dreispurige Straße ist dicht um dicht mit schnellen Fahrzeugen vollgestopft - die sehr gute Lage meines Motels, nur 500 Meter vom Trans Canada Highway entfernt, macht sich nun als ein Nachteil bemerkbar. Denn unmittelbar vor dem Hotel zweigt auch der alte Highwway 1A ab, der die Nebenstrecke über Cochrane nach Banff bildet. Und nun, morgens, die Einfallstraße der Berufspendler darstellt. Und Highway, das heißt um diese Zeit: 60, 70 km/h und schneller.

Ich stehe an der Motelausfahrt, warte. Warte. Lücke? Warten. Warten. Lücke? Los! Nein, halt, warten. Ich zögere. Wieder keine Lücke? Doch! Jetzt, ich gebe Gas, trete rein, beschleunige die Speedmachine, Autos rasen von rechts auf mich zu, ich trete, schalte hoch, die Autos kommen näher, näher, treten, schalten, bremsen! Mittelstreifen. Anhalten. Geschafft.

Zur Hälfte. Ich schwitze. Keine 25 Meter gefahren, ich schwitze wie ein Schwein. Zittern da etwa meine Hände? Wieder um wieder rauschen dumpf PickUps an mir vorbei, ich komme mir vor, wie in Star Wars. Gefangen zwischen zwei gegensätzlichen Strömungen. Da, von einem Augenblick auf den anderen entdecke ich eine Lücke. Ohne groß zu denken trete ich rein, sehe, dass es nicht reicht, reiße meinen Arm hoch, dabei kurbele ich die Pedale so schnell ich kann, beschleunige, die müssen bremsen! Die müssen bremsen!

Tun sie auch. Ich winke, danke ihnen und ordne mich rechts ein. Im Verkehr. Es geht bergab. Schweiß steht mir unterm Helm. Ich habe es geschafft: Die Straße überquert!

Nun schwimme ich im Strom, genieße es, nicht volle Kraft geben zu müssen, fahre gemächlich, runder Tritt - es sind ja nur noch eintausend Meter zur Auffahrt auf den Trans Canada Highway. Da merke ich, dass auf meinem Tacho eine 36 steht. Wow, wenn das "gemächlich" ist, kann es meinetwegen so weiter gehen!

Und dann kommt er, der Abzweig. Pareen, die Super 8-Managerin, hatte mir versichert, dass aus Calgary raus kaum Verkehr sein würde um diese Zeit. Und sie hatte Recht. Vereinzelt ein paar Fahrzeuge, ansonsten habe ich die drei Spuren bequem für mich. Und mehr noch - der Seitenstreifen, auf dem ich mich ganz rechts einordne, ist so bequem breit, dass ich hier eine eigene Fahrbahn habe.

Schneller als gedacht komme ich voran. Die Beton-Sünden weichen Gottseidank immer mehr der - obwohl kargen, doch angenehmeren - Natur.

Schnell bin ich aus Calgary hinaus. Dann passiere ich ein paar Brücken, Zubringer und Abzweigungen. Dann kommt der erste Anstieg - sachte, leicht, fast einschmeichelnd mit wenigen Grad und Höhenmetern. Er bremst mich auf 25 km/h herunter - ganz so, als wolle er mich beruhigen. Es gelingt ihm.

Die Autofahrer, die mich überholen, wechseln alle, obwohl sie mehr als genug auf den riesigen, breiten Fahrbahnen haben, fast alle auf die ganz linke Spur. Fast so, als umschifften sie mich, gingen auf Sicherheit oder sei ich ein gefährlicher Gefahrenguttransporter. Mir soll es Recht sein - es dauert nicht lange, und ich fühle mich sicher.

All meine Fragen, Unsicherheiten und Zweifel, ob das Fahren auf einem Highway - immerhin das nordamerikanische Pendent zur deutschen Autobahn - so eine gute Idee wäre. Ist sie! Es macht Spaß, ich fühle mich sicher, der Straßenbelag ist großartig (bis auf die Rollsplitsteinchen, die spitz dann und wann herumliegen) und ich komme schnell voran.

Speedmachine goes Olympia: Vorbei an der Ski-Schanze. Das hätte ich mir allerdings glamouröser vorgestellt ...

Schon schieße ich am Wintersportgelände der Olympischen Spiele vorbei - majestätisch Ragen die Schanzen empor. Ich frage mich, was das für ein Gefühl für die Skiflieger gewesen sein muss, damals, als sie vom Schanzenteller abgehoben auf einen sechsspurigen Highway zugeflogen kamen.

Ich fliege. In seichten Wellen, sie kaum zu spüren sind, legt sich das Asphaltbahnd über die Prärie. Dann und wann sehe ich links und rechts Rinder grasen. Weite, flache Landschaft - das Agrar-Patchwork, so sieht es also von unten aus. Calgary liegt schon lange hinter - und eine lange, lange Weite vor mir.

Kein Lenken nötig - hier wäre ein Autopilot angebracht.

Schnurgerade geht es geradeaus. Es ist 11 Uhr, ich bin ein wenig mehr als 3 Stunden unterwegs und noch 15 Kilometer vor Canmore, meiner ersten größeren Siedlung seit Calgary. Eine Pause ist nicht eingeplant.

Rund ist der Tritt, weder Gegen- noch Rückenwind nerven, ich fahre einen 28er Schnitt und beginne, langsam in die Rad-Trance zu fahren, die ich so liebe. Alles geht rund, mein Rohloff-Reaktor surrt hinter mir sein Lied vom 8ten Gang und die digitalen Zahlen vor mir auf dem Bike-Computer wechseln ab und zu träge zwischen einer 26 und einer 28 hin und her. Autobahnfahrt, denke ich. Autobahnfahrt.

Früher, als Kind, habe ich mich in diesen Momenten, da die Zeit zu einem zähen Brei zu zerfließen scheint, immer auf der Rückbank unseres Autos zusammen gerollt, habe meine Hände unter meine Wange gelegt und die Augen geschlossen. Dann, dann spürte ich die kleinen Erschütterungen, die die Federung elegant weg bügelte, verschmolz fast mit dem Auto, ging das seichte Auf und Ab mit, stellte mir vor, wie da nur wenige Zentimeter unter mir der Asphalt hindurchrauschen würde ... stellte mir diese Dinge vor ... und döste weg. Schlief ein.

Schnell, schneller, am schnellsten - hier kann man richtig Speed machen. Abwechslungsreich ist aber was anderes.

Jetzt geht das natürlich nicht. Aber dieses Gefühl der Weite. Der unendlichen Weite, des Ganz-Klein-Seins, es stellt sich ein. Fast glaube ich, das Polster unseres Autos riechen zu können. Die Sonne brennt heiß, aber es bleibt kühl, trotz der Kurbelarbeit. Ich habe seit 4 Stunden nicht mehr lenken müssen. Keine Kurve seit 80 Kilometern. Kanada, so fühlt es sich also an. So fühlt sich Unendlichkeit an, denke ich.

Vor mir senkt sich der Highway. Und dann werde ich ihr gewahr: Der Wand. Da ist sie wieder, der Grund meiner Reise. Verstört, fasziniert, aufgeregt - fast aufgescheucht reißt sie mich elektrisiert aus meinem Velotraum.

Wo die mich Überholenden in weniger als einer Stunde sein werden - für mich nurmehr eine Ahnung von Gebirge: Die Rockies voraus.

Die Rockies, diese spitze Säge, eine Wand aus grauem Fels mit Schneekuppe - da kann ich sie sehen. Da, am Horizont. Da ist sie. Weit weg noch. 40, 50 Kilometer? Eher dreißig, überschlage ich. Dreißig Kilometer, das sind eineinhalb Stunden. Eineinhalb Stunden noch.

Auf einmal ist es wieder da - das Gefühl, fest geklebt zu sein. Zähe Fäden Kaugummi, die ich hinter mir herziehe, die mich wie ekelhafter Alptraum-Kleber an Calgary halten. Mich nicht fortkommen lassen. Mein Ziel, eine Fata Morgana. Ein Schema. Ein Nebel.

Unwahr, fast wie in einem Film, so starre ich auf die Berge. Sie ziehen sich von ganz rechts im Norden vor mir hinweg bis ganz links im Süden. Die Cordillieren, erinnere ich mich an 9te Klasse Geographie, die Cordillieren - von Alaska bis Feuerland durchgehend. Und ich, ich sehe nur einen Teil. Nicht mal die höchsten Berge sind das hier. Und gerade das macht sie noch größer.

Jubeln, soll ich jubeln? Oder wenigstens grinsen? Mich freuen? Oder in Ehrfurcht erstarren? Zweifelnd, freudig, ängstlich, neugierig - ich bade in Gefühl. Und trete dabei. Jede Kurbelumdrehung bringt mich diesen uralten Ungetümen näher. Und meinem Traum.

Ich habe das Gefühl zu stehen - ich fahre schnell, nur die Berge kommen und kommen nicht näher!

Mittlerweile brennt die Sonne immer heißer herunter. Ich erinnere mich, mein Trinkverhalten unabhängig vom Durstgefühl gestalten zu müssen und zwinge mich, im Abstand von 15 bis 20 Minuten ein paar Schlucke von meinem Power-Drink zu nehmen. Dass ich heute alles andere als leicht vorankomme - anders, als mir mein mit Endorphinen gesättigtes Hirn siegestrunken suggeriert - merke ich daran, dass mein Trikot mittlerweile durchgeschwitzt ist und ich meine Bikejacke öffnen muss.

Wenig später, ich bin die 4te Stunde unterwegs, frage ich mich, angesichts der Tatsache, dass ich den Bergen anscheinend nur um wenige Meter näher gekommen zu sein scheine, ob ich heute überhaupt noch mein Ziel erreichen können: Weiß ich doch von meinem Streckenausdruck aus Google und Bikemap.net, dass ich heute die Berge nicht nur erreichen muss, sondern noch ein ganzes Stück durch sie hindurchzufahren habe.

Aber, komme ich dieser Gebirgskette überhaupt näher? Langsam bekomme ich da meine Zweifel. Ich erreiche eine Art Parkplatz - einfach eine Schuttbuchte, durchzogen von Spuren schwerer Trucks garniert mit einem einsamen Eimer - bärensicher - schwenke ein und beschließe, eine kleine Pause zu machen.

Gebot der Stunde: Trinken, bevor der Durst kommt. Aber der teure Power-Drink schmeckt leider nicht besonders gut.

Power-Riegel, Bananen und einen halben Liter Wasser genehmige ich mir. Ich hocke im Gras, hinter mir rauscht Wind in den Wipfeln der Tannen und ich schaue den Trucks nach, die donnernd an mir vorbeiziehen. Ich lockere meine Waden, rate, welche Tiere sich in den Wolken verstecken und versuche nicht daran zu denken, wie viele Kilometer noch vor mir liegen.

Dreißig, verrät mir mein Gehirn. Dieses Biest! Muss es immer so verdammt realistisch sein?

Back on Track - Pausen sind mir keine Freude, eher notwendiges Übel. Und so fühle ich mich erst wieder besser, als ich, ruhig im Takt meiner eigenen Velodie tretent, mich wieder auf meiner Seitenspur des Trans Canada Highway befinde.

30 Kilometer. Ein Klacks. Ein Katzensprung. Ein Scheiß. Da hatte ich schon ganz anderes zu leisten! Da knickt die Straße vor mir ab, die Tannen räumen die Seiten, wie ein Vorhang im Theater geben sie die Sicht frei - und da sehe ich die Kulisse. Wie ein Hauptdarsteller hat sie ihren Auftritt. Nein, ein Ensemble. Eine ganze Truppe - die Besten der Besten. Da stehen sie, aufgereiht. Oder eher wie Soldaten, kampfbereit. Tragen alle die selbe Rüstung: Weiße Helme, graue Panzer. Hart, undurchdringlich.

Ich kann kaum die kurze, aber schnelle Abfahrt genießen, weil ich das Gefühl habe, Grenzbruch zu begehen. Einzudringen in ihr Gebiet. Ich verspüre den Impuls, mich zu verneigen, meinem Herren die Ehre zu erweisen.

Da sind sie, die Rocky Mountains.

Oops, da sind sie schon. Auf einmal mitten drin. In den Bergen.

Ich erreiche Wald. Es wird hügeliger, merklich zieht die Straße an. Trucks schalten einen Gang herunter, nehmen Anlauf für die nächste Kuppe. Keine Felder mehr. Keine Rinderherden - Wiesen, Wald. Und der Geruch. Es riecht nach Harz. Nach Fels. Nach Gebirge.

Nun also gilt es: Tritt ein, Speedmaschinist, tritt ein in das Theater der Steigungen. In den Parcours der Jahrtausendsteine. Ich muss mehr leisten jetzt. Der gleichförmige, fast einschläfernde aber sehr schnelle runde Tritt der Ebene weicht einem unregelmäßigem, von Anstiegen und Abfahrten geprägten, schnellen Wechseln von harter und wenig Belastung. Und das, das strengt mehr an. Aber ich kenne das. Das haut mich nicht um - nein, ihr Berge, da müsst ihr euch mehr Mühe geben.

Okay, sagen sie.

Sie kontern nicht sofort. Sie bleiben ruhig. Werfen mir eine kleine, dann noch eine kleine und noch eine kleine Steigung unter die Räder. Ich murre nicht, nein, ich freue mich - immerhin bin ich wegen der Berge hier her gekommen. Und immerhin kann ich diese jetzt schön groß vor mir sehen. Endlich mehr Berg. Mehr Detail.

Nun sind sie keine nebulösen Drohgebärden dieses Landes mehr, sie sind Realität - stehen neben mir. Da, genau da vorne. Links, rechts. Da sind sie, die Berge. Schön. Toll sehen sie aus. Fast habe ich Bock, mein Rad abzustellen und eine kleine Wandertour einzulegen.

Ich pfeife sogar ein Lied. Gute Laune. Ich schwitze wie ein Schwein, merke, wie es langsam beginnt, in den Waden zu zwicken - aber ich habe gute Laune. Auf leichten Sohlen, so fliege ich die Hügel rauf und runter. Und merke wieder nicht, wie sie immer steiler werden. Und länger.

Schatten werden länger - ein ums andere Mal tauche ich in lange dunkle Bereiche. Die Berge blocken die Sonne. Und nun merke ich auch, was für Riesenbastarde das sind! Brocken, fast nehmen sie einem den Atem weg - mit der Sonne können sie es ja auch!

Dead Man´s Flats - täuscht ein Schild eine Ebene vor. Aber flat ist hier nichts mehr. Ich umrunde einen Berg und realisiere, dass ich nun endgültig in den Rockies fahre statt nur vor ihnen herzukurbeln. Ich bin drin. Bin drin.

Eine Steigung tut sich auf. Genau hinter der Kurve. Und dies, dies sei die erste von einer Menge richtiger Steigungen. Keine Hügel mehr, Schluss mit Soft-Talk, scheinen die Berge zu grollen, Schluss mit der Spielerei - jetzt beweise, dass du ein Mann bist.

Und wie zum Hohn macht noch einmal ein Verkehrsschild Mimikry, sonderbarer Gegensatz von Wort und Bild. Nein, wahrlich: Flat ist hier wirklich nichts mehr - aber Dead dafür schon.

Wände aus Stein neben mir. Ich möchte Schreien, schauen, wie der Schall sich an ihnen bricht, an ihnen zerbricht, zersplittert und zu sonderbaren neuen Tönen zusammengesetzt wird. Ich möchte sie anfassen, spüren. Möchte weglaufen. Möchte über ihnen sein. Aber ich weiß, dass das nicht geht - von jetzt ab, das präge ich mir ein, von jetzt ab werde ich über eintausend Kilometer lang keinen Horizont mehr sehen. Von jetzt ab werde ich umgeben sein von Mauern aus Fels.

Wenn die Berge die Sonne gerade verdecken, schnürt es mir die Kehle zu - hingegen lassen sie ihren Schein zwischen den Kuppen hindurch, bin ich hocherfreut, himmelhochjauchzend.

Ich halte an. In einem der Sommerlöcher. Genieße.

Gerade die richtige Kulisse: Liegerad Speedmachine vor einem anderen Giganten der Straße.

Wie Happen zum Anfüttern wird mir eine Aussicht nach der anderen vor die Augen geworfen - hinter jeder Kurve, über jedem Anstiege, hinter jeder Brücke wartet eine neue Postkartenansicht. Ich mache Fotos, als gäbe es das alles hier morgen nicht mehr. Halte an, bremse mich herunter, um den Flussläufen, den Mäandern und den scheinbar endlosen Wäldern zu folgen.

Als Europäer ist die größte Distanz, die ich kenne, in der kein Mensch lebt, 20 Kilometer. Hier scheint es, dass es im Umkreis von hundert Kilometern keine Menschen außer mich und den Fahrern der PickUps zu geben scheint, die mich dann und wann überholen.

Und damit, so realisiere ich, habe ich gar nicht so unrecht.

Happen zum Anfüttern - dann muss ich zahlen: Mitten in einem unangenehm steilen Anstieg gabelt sich der Highway in acht Spuren. "Welcome to Banff National Park" steht da. 9 Dollar kostet der Eintritt. Ich bezahle das Geld gerne.

Manchmal halte ich einfach nur an und staune: Wie muss das hier ausgesehen haben, als es noch keine 250-PS-PickUps auf 6 Spuren gab? Genauso - nur ruhiger.

Dann rolle ich hinab. Die Mautstation hinter mir, fliege ich meine erste richtige Abfahrt hinab. Alpines Sausegefühl - 40 km/h gehen durch, 50 km/h. Ich trete rasant, komme mit dem Schalten gar nicht hinter her, was solls, denke ich, lege den größten Gang ein, dann umfasse ich die Griffe meines Tiller-Lenkers und trete richtig rein.

Die 60 glänzt digital im Bike-Computer, dann nähere ich mir der 65. Es knallt in den Ohren, links und rechts verschmelzen Bäume zu einer flockigen Zuckerwattemasse, zu grünen Warp-Streifen, Lichtgeschwindigkeit, Rohloff hinter mir überschlägt sich im Freilauf. Oder schreit die Nabe? Vor Glück, wie ich, nehme ich an.

Dann sind plötzlich 10 Kilometer vorbei und bei einer Pinkelpause lese ich das Hinweisschild vor mir - kann es kaum fassen: Banff 2 Kilometer.

Schon da? Schon da!

Zwei Kilometer? Zweitausend Meter? Zehn Minuten reintreten. Dann war es das schon. Dann war es das schon? Ich fasse es nicht!

Fast ungläubig mache ich mich an die letzten Kilometer. Und werde auch noch mit einer weiteren Abfahrt belohnt. Misstrauisch bin ich - Abfahrten wollen erarbeitet sein, das habe ich schmerzhaft lernen müssen. Nichts, kein einziger Höhenmeter Abfahrt wird einem Biker geschenkt. Jeden kleinen Hügel, jede Sekunde komfortablen Freilauf beim Bergabfahren muss er sich erarbeiten. Meist sehr hart.

Jetzt aber führt die Straße geradewegs bergab - nicht rasant, ich fahre 28 km/h, aber ich muss nichts dafür tun. "Welcome to Banff" begrüßt mich edel ein geschnitztes Bild. Banff, dieser weltbekannte Urlaubsort. Sauber, sauber, denke ich, als Randsteine und Gehwege beginne.

Erste Lodges und Hotels kommen, Trekking-Biker und Rennradler sehen mich, grüßen und winken. Wie im Traum, denke ich. Einsame Leere, stundenlang, nichts, außer weite Felder mit Rindern oder undurchdringliche Wälder - und nun ein Skiort á la Ischgl?

Wow, nobel, nobel - 4 Sterne für 90 Dollar? Das nenne ich mal ein Schnäpple!

Und da ist sie auch schon - die Caribou Lodge. Mein Hotel. Weltweit sollen wegen der Wirtschaftskrise die Hotelpreise um 40% gefallen sein. Und ich danke es der Krise - denn ohne sie könnte ich mir dieses Haus bestimmt nicht leisten, denke ich. Und frohlocke, denn ich beschließe gerade, meinen Extra-Tag den ich wegen der Zeitzonenkonfusion geschenkt bekommen habe, hier in Banff zu verbringen.

Wie ein Lord Fahre ich vor, der Hoteljunge zögert - ist er doch eher gewohnt, Autotüren zu öffnen. So grüßt er mich freundlich und blockiert die automatische Eingangstür in die Lobby für mich.

Das Hotel ist atemberaubend schön. Eine in Holz gehaltene, riesige Lobby läuft auf einen ebenso riesigen Sitzbereich mit bequemen Holz-Leder-Sofas zu, die elegenat im Halbkreis um einen - na klaro - riesigen Kamin gruppiert sind. Ich staune, denn im Kamin brutzelt sogar echtes Feuer, angeheizt von großen Holzscheiten.

Freundlich und schnell checke ich ein. Mein Liegerad bekommt einen extra Stellplatz in einer abgeschlossenen Kammer der Waschküche und mein Zimmer überrascht mit großzügiger Geräumigkeit und anheimelnder Atmosphäre. Sogleich entpacke ich mich und meine Klamotten, lasse mir ein heißes Bad ein und entspanne in hoteleigener Körperpflege. Es ist herrlich, wie meine brennenden Waden in heißem Wasser einweichen. Nebenan gibt CNN die neuesten Katastrophen globaler Poltik bekannt, aber ich schaue am Flatscreen vorbei durchs Fenster auf den grünen Berghang, der hinter dem Hotel steil ansteigt.

Zwars schneide ich mich beim Beinerasieren, aber auch das kann meiner Laune keinen Abtrieb verpassen - die erste Etappe, stelle ich zufrieden fest, war ein voller Erfolg. Kanada scheint ein perfektes Radlerland zu sein. Die Rockies sind groß, größer und faszinierender, als ich es mir erhofft hatte und, das Beste, mein Training zahlt sich aus - die wenigen, aber kniffligen Anstiege zum Schluss schmerzen weit weniger, als sie es noch vor einem Jahr getan hätten.

Ich sättige mich bei einem vorzüglichen Italiener, schlendere durchs schöne Banff und schmiede einige Pläne für morgen, meinem freien Tag, ehe ich pünktlich, ein wenig fertig, aber trunken vor Glück im Bett lande und wenig später noch glücklicher einzuschlafen beginne.

Ich bin dankbar für den Rechenfehler, ist mein letzter Gedanke. Die Caribou Lodge hat ein Indoor-Spa. Kostenlos für Gäste. Auf ihn und das Frühstücksbüfett - das hier ein Knaller sein muss - freue ich mich, als ich, meinen letzten Gedanken denkend, vollkommen zufrieden wegträume.

Etappe 1: 122,83 km mit 1.120 Höhenmetern in 4:47 Stunden und 25,6 km/h Schnitt