Im Bann von Banff

Tag 4: Ruhetag in Banff

Heute habe ich frei. Einen Tag aufholen. Fast komme ich mir wie ein Weichei vor - gestern gerade mal keine 130 Kilometer gefahren und schon einen Ruhetag einlegen wollen. Aber ich komme nicht drum herum: Durch meinen Rechenfehler mit der Zeitverschiebung muss ich 24 Stunden rumkriegen.

Und hey - ich bin im Urlaub. Und wo kann man Zeit besser "rumkriegen", als in einer 4-Sterne-Lodge inmitten eines wundervollen Nationalparks?

Nachdem ich, bedient wie ein Fürst, das reichhaltige Frühstücksbüfett geplündert und mich für den Tag mit allerlei Gesundem gefüllt habe, denke ich darüber nach, was ich heute machen könnte. Ich schaue aus dem Fenster - Banff liegt da, ruhig, gemütlich, reizend.

Ich habe einen Ruhetag. Also beschließe ich, erstmal auf einen Berg zu steigen.

Es gibt hier so viele, aber zu einem, da weisen überdurchschnittlich viele Schilder in Banff. Es ist einer der kleineren Berge, die den Ort umgeben. Eine Kuppe, keine schroffe Felsklippe. Bewaldet bis oben hin. Ein schöner, smoother Berg. Einladend, nicht so "hier kommst Du net rauf!"-mäßig wie die anderen Berge.

Nur 1.700 Meter hoch.

So mache ich mich an den Aufstieg. Profimäßig ausgerüstet mit Converse-Chucks (ohne Schnürsenkel) und einem Liter Wasser. Der Wanderweg ist super ausgeschildert, befestigt und ausgetreten. Es geht recht steil bergan, aber nichts, was mich umhauen würde.

Ich überhole ein älteres japanisches Pärchen, das die Warnschilder "No Shortcuts!" ignoriert und genau zwischen den Serpentinen hinauf klettert. Schutt, Geröll und allerlei Herabgefallenes liegt da. Aber der Herr lächelt und verbeugt sich so nett, als ich ihnen ein "Good Morning!" zurufe, dass ich mal den Oberlehrer stecken lasse.

Ich ziehe an ihnen vorbei, komme immer höher. Muss schlucken. Druck auf den Ohren. Immer wieder drehe ich mich um.

Wie beeindruckend das Bow-Valley da unter mir liegt. Menschen sind nicht mehr zu erkennen. Auch diese furchtbaren Geräuche, die sie ständig produzieren - Hupen, Presslufthämmer, Motoren - verschmelzen hier oben zu einem unterschwelligen Brummen. Mini-Menschheit ist nicht laut genug, um die Berge zu übertönen.

Hier fühle ich mich gut - Höhensonne, Höhenluft, Höheneinsamkeit. Ich bade mich in den tanzenden Schatten, die die Sonne durch die Tannen auf meinen Körper wirft. Rieche den Harz der Bäume, die hier schon waren, als noch keine Touristen auf vorgefertigten Wegen diesen Gipfel erreichten. Als nur der Adler allein seinen Horst hier hatte..

Ein Schild kündet vom Gipfel - 1.700 Meter. Eine Stunde Powerwalk. Nicht der Rede wert, denke ich mir, trinke genüsslich einen Schluck Siegeswasser und setze mich auf den Felsen.

Ich blicke nach Osten. Und sehe das Gestern.

Dort hinten, hinter dem Berg - bestimmt ein Dreitausender - dort, wo die Strahlen der Sonne den Wald im Tal bescheinen, da, wo sich dünn und silbrig glänzend das Doppelband des Trans Canada-Highway an die Berge anschmiegt, dort bin ich gestern entlang gefahren.

Durch dieses Tal kurbelte ich, zügig, motiviert, ein bisschen geschafft und da hinten, ich sehe es genau, da musste ich pinkeln. Gestern noch. Als ich noch nicht wusste, dass hier, eine Kurve weiter, hinter dem Berg, schon Banff liegen würde.

Ich spiele Zeitschätzen. Halte die Abschnitte meiner gestrigen Tour zwischen Daumen und Zeigefinger und versuche zu ergründen, wie viele Stunden das wohl sein mögen. Wie viel Schweiß, wie viele Krämpfe, wie viel Spaß, wie viele tolle Momente passen zwischen zwei Finger? Wieviel Radtour bekomme ich in meine Hand?

Dann stehe ich an der Westseite. Und sehe die Zukunft. Schaue auf das Morgen. Schneebedeckte Gipfel begrenzen das Bow-Valley, dem ich auf dem Glacier-Highway folgen werde. Und ich sehe die Kurve, die ich morgen fahren werde. Wo das Tal einen Bogen macht, hinter dicken Felsen verschwindet.

Und wieder nehme ich die Strecke zwischen meine Finger und rechne - 9 Uhr bin ich dort, dort, wo das einsame Haus steht. Und gegen 10 werde ich von hier oben aus schon nicht mehr zu sehen sein, weil ich hinter der Kurve verschwunden bin und nach Norden fahre. Dorthin, wo bei Lake Louise der Highway 1 einen Ableger hoch nach Jasper schickt, den Icefields-Parkway, den ich auch so gern sehen wollen würde, es aber aus Zeitgründen nicht schaffe.

Wie eine Eisenbahnplatte sieht es aus, wie im Wunderland - saubere, heile Welt. Perfekte Kulisse, um sich die Probleme und Sorgen unseres Planeten wegzuträumen. Abschalten, wegfliegen. Ich retouchiere in Gedanken all die Häuser weg, die Brücken, den Highway - füge noch mehr Bäume hinzu, übertünche die Menschengeräusche mit Adlergeschrei und Bärengebrüll.
Und stelle mir vor, wie das hier früher war, als die Indianer auf Trampelpfaden ihre Jagdreviere durchmaßen. Und irgendwann, wahrscheinlich auch durch das Tal, durch das ich gestern geradelt kam, eine Horde nach Whiskey stinkender Cowboys geritten kam, um auch dieses Tal zu "erobern".

Ich mag diesen Gedanken nicht und beschließe, mich an den Abstieg zu machen.

Was eine richtige Entscheidung war, denn nun erreichen auch eine Anzahl anderer Kraxler den Gipfel, unter anderem die japanischen Abkürzer und ein paar laute Amerikaner.

Bergab geht es schnell. Es ist, wie nach Hause fahren - auch wenn es de facto die selbe Strecke ist, gleich lang, gleich schwer, man hat immer das Gefühl, schnell wieder daheim zu sein. Nach einer weiteren Stunde auf den zuweilen mit meinen vollkommen Wander-Ungeeigneten Converse, erreiche ich wieder Downtown Banff.

Eine kleine Straße geht ab, eine Nebenstraße. An ihr stehen keine Häuser, sie führt in den Wald. Als ich das Schild lese, kapiere ich - Wolverine wohnt hier. Ah, nach klaro, den möchte ich auch nicht als Nachbarn haben ...

Ich gehe schnurstracks in den örtlichen Safeway und rolle motiviert durch die Gänge - immerhin geht es morgen wieder auf den Highway, ich bin motiviert und kaufe hier jetzt alles ein, was ich für die nächste Etappe alles so brauche.

Bananen, Wasser, Saft, Power-Riegel - hey, hier haben sie sogar PowerBar! An der Kasse bemerkt die Kassiererin, dass meine VISA aus Deutschland ist und beginnt ein nettes kleines Gespräch mit mir.
Sagt mir, wie sehr sie Deutschland mag. Gerade Deutschland, Deutschland möge Sie sehr.
Ob sie schon einmal da war, frage ich.
Nein, sagt sie da.

Ich frage nicht weiter, warum sie denn dann Deutschland so mögen würde, wenn sie noch nicht einmal da gewesen sei - denn ich fürchte, sie würde "Autobahn" sagen.

Beladen mit zwei prallen Plastiktüten voller leckerer Dinge wackle ich ins Hotel. Mittlerweile ist es Nachmittag und mein Magen knurrt. Für das anständige Carbo-Loading suche ich mir einen Italiener aus, möchte aber zur Feier des Tages (man besteigt ja nicht jeden Tag eine 1.700er) einen "ordentlichen" Italiener gönnen und lande, eher ungewollt, in den Räumen der ersten Adresse am Platz.

Bruce, mein persönlicher Ober, bedient mich aufs Vortrefflichste. Wir kosten 3 Weine, ehe ich meinen Favoriten habe - dabei sage ich ihm nur, dass ich fruchtig-trockene Rotweine bevorzugen würde.

Das Stuffato, das er mir serviert, ist ein Traum, die Pasta auf dem Punkt und so gar nichts in diesem Restaurant erinnert an Luigi´s Pasta-Bude, in der man sich sonst so wiederfindet, wenn man mal schnell irgendwo zum Italiener will.

Und weil Bruce mir das hausgemachte Eis so nett anpreist, nehme ich das zur Feier des Tages gleich noch mit - und erhalte drei Riesenkugeln aus Schokolade (zum Hinknien!), Kirsche (ein Traum!!) und Mango (mein Kragen platzt!!!). Hervorragend. Exquisit.

Wie auch die Rechnung, die Bruce mir dezent neben meinen Fruchtig-Trockenen legt.

Die Dame im Wetterbericht erzählt wieder etwas von Thunderstorms für Alberta. Und wie zur Bestätigung regnet es hinter den Gardinen meines Hotelzimmers. Ich ziehe einen Flunsch und hoffe, dass Petrus morgen ein Nachsehen hat und es trocken sein lässt.

Regne mal ruhig, denke ich.
Regne dich mal ruhig aus über Nacht. Hauptsache, morgen ist es trocken.

Morgen geht es nach Golden. Tiefer, noch tiefer in die Rockies. Denke ich, als ich einschlafe, und im Traum wieder ober auf dem Tunnel Mountain stehe. Eine riesige Kanone habe, um die Whiskey-Cowboys, die in dieses wunderschöne Tal eindringen, abzuwehren.

Es wird ein lauter Traum.