Last, but - surely ! - not least

Tag 15: Victoria - Seattle

Es war der Schlaf der Götter, dem ich gestern verfallen bin. Was auch keine Schwierigkeit war, denn das Bett, das Zimmer, die Ruhe im Abbeymoore Inn wirkten wie ein Schlummertrunk - die Riesenliterflasche Asahi-Bier im japanischen Restaurant tat dann sicher noch das ihre.

So liege ich wach, neben mir das Handy, es piept - und ich weiß, dass es heute vorbei ist. Heute, die letzte Etappe. Die letzten Kilometer in Kanada, dann noch ein paar Stunden in den USA. Das war´s dann auch schon wieder.
Unfassbar!

Die letzte Etappe - in the land of the free and the home of the brave.

Ist es wirklich schon vorbei?, denke ich, als ich am Frühstückstisch sitze, ein perfekt gelaunter Ian beginnt, das 4-Gänge-Breakfast zu servieren und ich die Taxofit Magnesium-Kapsel und eine für meine Gelenke - Gelenke plus Ultra - gleich noch hinterher spüle.

Heute in die USA. Mit der Fähre. 120 Kilometer stehen an. Dann ist Seattle erreicht.
Beim ersten Gang, einem Dreierlei aus Bio-Birnen einer Bio-Gärtnerei nicht weit von Victoria entfernt aus einem Bio-Dorf gekauft. Es schmeckt göttlich - und in mir wechseln Gefühle wie Stolz und Glück oder Traurigkeit und Wehmut Bäder.

Ians Witze verschaffen Linderung: Zum zweiten Gang gibt es Pancakes (Bio-Eier) mit Vollkorn-Einlage, Bio-Apfel-Scheiben und einem leckeren karamelisierten Puderzucker mit einem Hauch Zimt. Ein Traum.

Abfahrt vom großartigen Abbeymoore Manor.

Ich verabschiede mich zwei weitere Gänge später von meinem perfekten Gastgeber Ian, dem ich noch beibringen muss, was "Bicycle" auf Deutsch heißt.
Er spricht "Fahrrad" zu weich, zu amerikanisch, aus. Als ich ihm sage, er müsse es härter, strikter und aggressiver betonen, nimmt er Haltung an, klatscht die Hacken aneinander und brüllt "Farrat - mein Furer!".

Ich beschleunige mal lieber ...

Victoria Harbour - standesgemäß mit dem Wasserflugzeug. Wie sähe das wohl aus, meine Speedmachine dort an Bord zu zwängen?

Victoria erwacht gerade, als ich noch ein paar hundert Meter zum Andenken auf dem Trans Canada-Highway fahre, ehe ich abbiege und hinab zum Hafen rolle. Meine Fähre hinüber in die Vereinigten Staaten ist noch nicht an der Pier, ich habe noch etwa eine Stunde Zeit.

Wasserflugzeuge, die meist ins nördlich auf dem Festland gelegene Whistler, einem Nobel-Skiort, fliegen, kommen im Minutentakt angeflogen, landen mit weiß-schäumender Welle im kleinen Hafenbecken, laden ihre millionenschwere Fracht ab, saugen neue Millionäre ein und verschwinden wieder mit surrendem Gedröhn.

Toll!, denke ich, als mir die Fährfrau sagt, dass mein - schon in Deutschland gebuchtes und bezahltes - Ticket nicht gelten würde, da genau diese Fähre heute Ruhetag hätte. Online-Buchung amerikanische Art ...

Ich kaufe Eines von der Konkurrenz, deren Abfahrt aber erst in eineinhalb Stunden sein würde. So sitze ich vor dem Zoll herum, beobachte ein zusammen bestimmt 237 Jahre altes asiatisches Pärchen und freue mich, als ein Rennradler in voller Montur sein schickes Carbonmonster - ein reinrassiges Pinarello - in die Wartehalle schiebt.

An Bord der MV "Coho" - USA in Sicht!

Eine Stunde später bin ich an Bord des Schiffes. Wir sind nicht viele, vielleicht 100 Personen, die an diesem Dienstagmorgen von Seattle nach Port Angeles möchten, aber immerhin. Die Fahrt wird etwa eineinhalb Stunden dauern, sagt mir Mr. Pinarello, mit dem ich mich nun unterhalte.

Ich spreche mit ihm über meine Verwunderung ob der US-Einreisebeamten, die - natürlich von mir erst die Fingerabdrücke und das Terroristenfoto haben wollten - ausgesprochen freundlich waren, ja sogar einen kleinen, sonst dienstlich verbotenen, Smalltalk über das Recumbent Bicycle mit mir abgehalten haben.

Ja, sie seien hier entspannter, versichert er mir.
Und das kann ich nur bestätigen - und denke an die unglaublich forsche, fast beleidigende Behandlung der Costums am New Yorker JFK Airport zurück, die ich schon 6 mal über mich ergehen lassen musste. Nun ja, denke ich, Victoria ist einfach ein bissel englisch, da kommen auch die harten US Einreisebehörden nicht drum herum.

Ich stehe mit Mr. Pinarello im geschützten Vorderdeck, für draußen ist es zu kalt.
Er erzählt mir, dass er jede Woche einmal rüber fährt, dann auf den 2.300 Meter hohen Mount Deception fährt, wieder umkehrt und in sein Heimatland Kanada radelt.


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Nicht schlecht, denke ich.
Aber nix für mich, danke.
Ich, so erkläre ich ihm, mache heute meine letzte Etappe. Meinen Abschluss, mein Rad-Examen. Heute die letzte Püfung, die letzten paar Stunden, der letzte Akt. Dann bin ich durch. Dann habe ich es geschafft.

Eigentlich, so meine ich, ist das hier heute nur so just-for-fun, denn die eigentliche Aufgabe, das Abreiten des Trans Canada-Highways, habe ich ja schon hinter mir. Ich wolle, da nun mal in der Gegend, einfach mal Seattle sehen. Und da bestätigt er es mir: Seattle, ja, das ist eine geniale Stadt!

Irgendwann kommt Port Angeles, United States of America, in Sicht. Wir machen uns klar, schieben von Bord und ... landen in der nächsten Zollkontrolle. Zu spät bemerke ich meine drei Bananen, die goldgelb griffbereit in meiner Seitentasche stecken - nämlich als ich 2 Mann und unter den gestrengen Augen eines der Beamten vor dem Schild: "NO Fruits or Vegetables allowed!" stehe.

Meine Terror-Bananen und ich passieren die Kontrolle unbehelligt.

Doch ich kann es mir nicht verkneifen und stelle mir vor, wie John Sinclair und Triple-X, die hier die Schmuggler aus den Tagesgästen filtern sollen, meine stinkigen Schlüpper filzen auf der Suche nach El-Kaida-Material. Und tatsächlich, denke ich, so wie meine Socken riechen könnten die auch glatt als Bio-Waffen durchgehen.

Mr. Pinarello startet zu seiner Tour - Pink and Green-Water geben ihm Kraft.

Mr. Pinarello und ich verabschieden uns. Ich wünsche ihm alles Gute für seinen "kleinen" Trip auf dem Mt. Deception - fröhlich schwappt in nur zwei kleinen Wasserflaschen eine grüne und eine pinke Flüssigkeit - und wir trennen uns. Er versinkt in der unmittelbar hinter der Stadt steilen Steigung, ich drehe nach links und ordne mich auf dem US-Highway 101 ein.

Ich biege ab und trete rein, die letzten Kilometer haben begonnen. Und - ja! - ich merke sofort, dass ich nun in den USA bin. Kanada liegt hinter mir, das erkenne ich an zwei riesengroßen Ärschen, die da auf dem Gehweg vor mir planetengleich versuchen, die seichte Steigung emporzulaufen. In viel zu enge Leggings gepresst, in der einen Hand eine Coke (Supersize, na logo!) und in der anderen Hand ein billiges Täschchen.

Ich bin froh, als ich den Ort, dem ich so ganz und gar nicht glauben will, er sei der Hafen der Engel, mit seinen herunter gekommenen Burgerbuden und Autowerkstätten verlassen habe und wieder durch den Wald fahren kann.

Highway 101 - schnurgerade in den Süden.

Der US-Highway unterscheidet sich zunächst nicht von seinem kanadischen Bruder. Um genau zu sein, es ist eh die Verlängerung des Trans Canada-Highway und ich habe sogar meine Speed-Bumps wieder.

Die Autos stinken einen Tick mehr als in Kanada, sie fahren einen Tick schneller als in Kanada und auch die Straßenschilder sind ... nun ja, einen Tick aggressiver als in Kanada. Denn wenn drüben im Bear Country auf einem Schild gegen Umweltverschmutzung noch in kanadisch-freundlicher Art zu lesen steht: "Bitte nichts aus dem Auto werfen - es ist auch Deine tolle Natur." kann man entlang des Highway 101 folgendes lesen: "Litter - and it will hurt! (Wirf deinen Müll raus - und es wird dir weh tun!)".

John Sinclair und Triple-X finden dich!

Leider nunmehr auf sehr schmalem Seitenstreifen.

Ich komme ganz gut voran. Zwar fahre ich nun nur noch auf der Karikatur eines Seitenstreifens, aber das geht schon. Der Verkehr ist recht dicht, aber weniger als gestern auf dem Weg nach Victoria, habe ich das Gefühl.

Was allerdings geblieben ist, sind die Wellen, denen der Highway hoch und runter folgt und die mir den Verstand rauben. Es geht 20 Minuten bergan mit 7, 8 km/h - ich komme kaum in einen runden Tritt, denn der Anstieg ist zu kurz, um sich "darauf einzulassen" - und dann geht es, auch wiederum viel zu kurz, bergab, zu kurz, zu kurz, denke ich, zu kurz, um wirklich zu entspannen, zu kurz, um Spaß am Speed zu haben.

Mich nerven auch langsam die mit Steinen geradezu gesegneten Seitenstreifen des Highways - wird in Kanada mehr geputzt oder fahren hier überdurchschnittlich viele Trucks mit Rollsplitt beladen?

Dichte Wälder, supergrüne Natur - der Olympic National Forest.

Ich fahre zunächst nach Osten, der Wind kommt von der Seite, er tut mir nicht weh. Es ist schon früh recht warm, die Luftfeuchtigkeit tut das ihre und so schwitze ich schnell.

Dennoch komme ich gut voran und erreiche, nachdem ich meinen ersten ekeligen Berg geschafft habe, das Indianerdorf Sequim. Das verspricht mehr als es hält, denn außer den traurig wirkenden Souvenierläden und einem heruntergekommenen Supermarkt ist hier wirklich nicht viel zu sehen.

Dann geht es den Bell Hill hinauf, dessen langer Anstieg sich in einen Berg legt, der die Sequim Bay und später die Discovery Bay umrundet. Ich schwitze, keuche und fluche, als ich die beiden Buchten umrunde, staune aber auch in nehme mir kurz Zeit, es zu besehen und zu verarbeiten - hier bin ich wirklich im naturbelassenen Urwald, den mir Martin eigentlich für Vancouver Island versprochen hatte: Eine grüne Orgie umgibt mich.

Nerviges Up and Down - so hatte ich mir die letzte Etappe nicht vorgestellt.

Ich komme an einer kleinen Tanke vorbei, deren Zapfsäulen verrotten. Nur der kleine Shop hat noch geöffnet. Von weitem schon erkenne ich einen Reiseradler an den leuchtend roten Ortlieb-Taschen. Ich komme näher, erkenne eine Frau, bremse, schwenke ein und halte an.

Sie grüßt mich - mit ihrem ortliebroten Kopf. Wie ein Häufchen Elend lehnt sich auf blankem Sand sitzend am Bretterverschlag des Mini-Ladens, trinkt einen Kakao (Supersize, na logo!) und atmet schwer. Ich staune und salutiere in Gedanken: Menschen mit ihrer Leibesfülle machen normalerweise keinen Sport. Diese Dame hier schon. Alle Achtung.

Im Laden bekomme ich neueste Streckenanweisungen, verabschiede mich von der Lady, ihr alles Gute wünschend, und schwinge mich wieder in den bequemen Sitz meiner Speedmachine, trete rein und fahre los, um hinter der nächsten Kurve wieder im ansteigenden Asphalt stecken zu bleiben.

Hoch am Himmel steht, wie von Gott gesandt, ein großes Ausrufezeichen.

Halte durch!
Mach weiter!
Streng dich an!
Quäl dich, du Sau!

Ich muss grinsen, augenblicklich bleibt es mir buchstäblich im Halse stecken, als ein fieses Stechen meine Lunge hinaufschießt. Vor mir sehe ich eine lang gezogene Linkskurve. Es geht stetig bergan, steiler noch, als während der Etappe rauf zum Coquihalla-Pass. Nervig, denn ich sehe, wie erst in 2, 3 Kilometern der Scheitelpunkt erreicht ist.

Autos zischen an mir vorbei - viele grüßen hier. Das muss ich den USA positiv anmerken. In Kanada, wo Sporttreiben wohl Allgemeingut ist, werde ich nicht so euphorisch begrüßt. Für Kanadier ist es anscheinend normaler, sich als Cyclist in den Bergen abzumühen. Aber hier, im Land der Dicken und Bequemen, da ist das schon eine kleine Sensation, denke ich, als mich wieder ein stinkendes RV überholt und eine winkende Hand aus dem Beifahrerfenster grüßt.

Ich muss kurz vor dem Crocker Lake den Highway 101 - Olympic Highway genannt - verlassen und links abbiegen. Von nun an geht es wieder nach Osten. Ich brutzle in heißer Sonne, über und über mit Schweiß gesegnet, als ich das Autobahnkreuz befahre - es geht nur nur noch bergan.


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Langsam, im Schneckentempo fast, schraube ich mich die Anfahrt hoch, überquere den One-O-One und freue mich schon auf die Abfahrt, auch wenn es nur eine kleine ist, auch wenn ich nicht rasend schnell werden würde, auch wenn sie nur wenig Kühlung verspricht - ein paar Meter mal nicht treten zu müssen kommt mir jetzt wie ein Geschenk vor.

Doch es geht nicht bergab. Stattdessen muss führt die Steigung hinter dem Kreuz und hinter der im dichten Wald verborgenen Kurve noch steiler bergan. Das kann doch nicht wahr sein!, fluche ich Gedanken.

Und nur leichten Trost spendet ein Hinweisschild, das die Fähren nach Seattle ankündigt, denn ich weiß, es ist noch ein verdammt weiter Weg.

Nicht täuschen lassen - die Fähre ist noch weit, weit weg.

Ich bin verwirrt. Jedes mal, wenn ich ein Hinweisschild sehe. Verdammte Meilen! Ich muss immer wieder nachrechnen, die Angaben verdoppeln, um auf meine Kilometer zu kommen. Wenn da "30 Miles" steht, dann rechne ich mit 60 Kilometern - das ist ganz schön demotivierend, da die 30 als Bild in meinem Kopf zunächst Freudensprünge auslöst.

Das niederschmetternde Kilometer-Ergebnis meiner Kopfrechnung, 60 in diesem Fall, sorgt für einen Absturz, und nur wenig Linderung verschafft mir die Tatsache, dass eine Meile ja mitnichten 2 Kilometer, sondern "nur" 1,6 km sind.

Was bedeuten würde, dass ich ebenjene 30 Miles nicht mit 60, sondern mit 48 km rechnen müsste. Aber einerseits ist es nicht gerade zum Besten bestellt mit meinen kognitiven Algebra-Fähigkeiten (schon gar nicht eine Rechnung "mal 0,6" im Kof auszuführen) und zum anderen freue ich mich am Ende der 48 km umso mehr, dass es keine 60 sind.

So kann man das auch machen ...

Öfter auch mal Durchatmen und sich umschauen - die Natur ist atemberaubend.

Immer wieder schaue ich nach links und rechts und erfreue mich an der Natur. Denn die kommt, so merke ich jetzt, auf dieser Etappe zu kurz. Denn ich muss zugeben, dass dieser Olympic National Forest wunderschön ist.

Im Rückspiegel erkenne ich den fast 2.000 Meter hohen Mount Chatham, dahinter, schneeweiß und drohend, den wesentlich höheren Mount Deception.

Ich muss an Mr. Pinarello denken, dieser dürre, spillrige Mid-50er auf seinem schnieken Carbon-Renner mit zwei klitzekleinen Wasserfläschchen bewaffnet. Ob er schon oben ist? Ob er schon auf der Abfahrt ist?
Ob er mir einen Bären aufgebunden hat?

Der Verkehr nimmt zu - die Bäume nehmen ab.

Die nächste Stunde, oder vielleicht auch eineinhalb Stunden, folge ich dem Highway 104, der mich direkt zur Fähre nach Seattle bringen wird.

Die Natur bietet hier, da ich nun den Nationalpark verlassen habe, wenig Aufregendes. Im Gegenteil, ich sehe die Kehrseite: Riesige, gerodete Flächen durchmesse ich. Nur ab und zu steht einsam eine verdorrte Pinie in der savannenartigen Landschaft, hier und da kreist ein Adler auf der Suche nach einer Maus.

Die Hitze ist drückend und trägt nicht gerade dazu bei, dass ich diesen Abschnitt als "genussvoll" bezeichnen könnte. Immer mehr Autos überholen mich, wenigstens habe ich einen breiten Seitenstreifen wieder.

Kurz vor der Hood Canal Bridge.

Irgendwann knickt die Straße nach unten - ich kann Wasser voraus erkennen - ich nehme Speed auf und schieße mit, für diese Etappe unglaublichen, 45 km/h einen kurzen, knackigen Berg hinab und auf eine Brücke zu.

Schon vor 10, 20 Kilometern haben mich Hinweisschilder auf diese, die Hood Canal Bridge aufmerksam gemacht. Sie ist knapp 2,5 Kilometer lang und wird ständig überholt. An ihrer Seite, vorne, hinten kann ich Bautrupps, riesige Kräne und allerlei Boote mit Schweißgeräten, Gerüsten und Stahlträgern erkennen.

Der Verkehr wird dichter, fast Stoßstange an Stoßstange fährt man hier, aber mich stört das nicht, da ich hier immer noch einen komfortablen Seitensteifen mein nennen darf.

Ich genieße die Fahrt hier, denn ich kann stellenweise durch den Stahlrost schauen und das kühle, blaue Wasser unter mir erkennen. Zudem weht eine frische Brise von links an meine Wange, kühlt meinen Körper angenehm herunter und macht dadurch das - leider nun gestiegene - Abgasaufkommen der PickUps etwas erträglicher.

Von 2 Spuren auf eine - Gedränge vorprogrammiert.

Geschafft, drüber - nun bin ich aber endgültig fast da, rechne ich mir aus und schaue bei einer kleinen Pause an einer verlassenen Tanke, keine 2 Kilometer hinter der Hood Canal Bridge auf meine Karte.

Im Prinzip geht es nun nur noch auf der 305 nach Süden, dann bei Paulsbo nach links, dann immer weiter nach Süden bis ich irgendwann in Eagledale auf die Fähre fallen würde, rechne ich mir aus. 25, 30 Kilometer? Na, das schaffe ich in 1,5 Stunden, denke ich mir, esse meine letzten beiden Bananen, die letzten beiden Energie-Riegel, klinke mich ein und lache nur milde über die Steigung, die direkt vor mir nach Paulsbo hinaufgeht.

Ich bin gleich durch mit Dir, Kanada-USA-Trip, denke ich mir den Berg glatt - mir kannst du keine Angst einjagen!

Das Liegerad vertäut an Bord der Fähre - ich habe es geschafft. Fast.

Keine 90 Minuten später stehe ich neben meiner Speedmachine, die ich an der Wand meiner Fähre vertäut habe und kann es kaum fassen - das wars!
Aus.
Fertig.

Was war geschehen? Irgendwann, es war die vierhunderste Steigung dieses Tages, komme ich durch eine - Boomtown - genannte Marktstraße. Direkt am Highway haben hier die Indianer (wahrscheinlich, weil nur sie so ähnlich wie mit den Casinos die Lizenzen dafür haben) eine Stadt aus Riesenhütten erbaut, bei denen man - richtig! - Feuerwerk kaufen kann.

Es geht 5 Kilometer vorbei an Einkaufsständen vollgepackt mit allerlei Explosivem: "Sitting Bull´s Cannonpowder-Shop" oder "Defcon 1 Explosives" locken mit martialischen Explosionspostern, Feuerwerks-Rambos oder F-16-Jägern, die stilisierte Böller abwerfen. Verkehrte Welt, denke ich mir, und bevor ich aus dieser Explosionsorgie aufwachend raustreten kann, geht es schon bergab, immer schneller, immer schneller.

Ich muss mich einordnen - Seattle Lane - dann bin ich in einer Art Warteschlange. Dicht an dicht stehen Autos, eine Fähre mag gerade angekommen sein, denn mir entgegen, den Berg hinauf, quält sich ein elend langer Blechstau.

Ich mache immer noch 35, 40 Sachen. Dann passiere ich Polizisten, Fährbeamte, die mit Fahnen schwenkend die Autos in verschiedene Spuren aufteilen. Mich winken sie an den Rand, bedeuten mir, geradeaus zu fahren, ich habe kein Ticket, denke ich, fahre aber weiter, denn hinter mir füllt ein riesiger Dodge Ram den Rückspiegel aus. Bremsen möchte ich jetzt nicht.

Der nächste Polizist winkt, ich ändere die Fahrspur, das Ufer kommt näher, ich habe immer noch kein Ticket, wieder ein Winkender, hier lang, okay, denke ich, rolle und denke ich habe kein Ticket, ich rolle, ohne Ticket, auf die Fähre.
Eine Frau kommt, schickt mich zum anderen Ende des Schiffes, gibt mir ein Seil - hier, binde dein Fahrrad fest - ich habe kein Ticket, binde als Schwarzfahrer mein Rad fest, da gehen alle Neon-Westen mit ihren Wink-Elementen von Bord, das Schiff legt ab. Ich stehe da, starre ins weiß aufgequirrlte Wasser am Heck des Schiffes, Bainbridge Island bleibt zurück und ich habe kein Ticket.

Da ist sie, die Skyline von Seattle.

Weit und breit kein Angestellter zu sehen. Ich entspanne mich.
Und gleich schwellt mir die Brust - aus dem Nebel pellt sich die Skyline von Seattle. Ich grinse, ich atme, ich zittere und friere in der ungewöhnlich kalten, frischen Luft, wie ich da so an Deck stehe.

Die anderen Passagiere sind entweder oben auf dem Sundeck oder sitzen gelangweilt in ihren Autos und starren auf die Instrumentenblätter. Ich aber hüpfe zwischen den parkenden Karrossen umher und erst langsam dämmert mir, dass da, nur ein, zwei Kilometer vor mir das Ende meiner Tour immer näher kommt.

Jetzt also, jetzt ist es geschafft!

Stolz wie Oskar - so sieht das aus, wenn man 1.300 Kilometer hinter sich hat.

Vor der Space Needle, die ich mir für morgen vorgenommen habe, mache ich noch ein Foto meiner stolzgeschwellten Brust, ziehe meine Jacke wieder aus und mache mein Bike abfahrbereit.

Die Fähre legt sich etwas zur Seite, gibt die Sicht auf die Waterfront frei. Klein Manhattan, denke ich, suche nach markanten Punkten und freue mich, dass meine Entscheidung, per Fähre nach Seattle zu reisen und nicht über den Landweg zu kommen, die Richtige war.

Es hat immer etwas ganz Besonderes, sich einer Stadt von der Seeseite aus zu nähern: Keine endlosen, gesichtslosen Vorstädte, keine verstopften, hässlichen Highway-Orgien. Es hat etwas von Entdecken, von wirklich "Ankommen".
Mit einem Schiff anzulegen.
Von Bord gehen.
Stylish halt.

Nun nur noch 11 Straßenblöcke und ich bin da.

Wir docken an. Eine freundliche Einweiserin bedeutet mir solange zu warten, bis die Autos von Bord gerollt sind. So habe ich noch etwas Zeit, meinen Google-Maps Ausdruck zu studieren.

Der Weg ist, wie immer in Amerika durch das Avenue-Street-Schachbrettsystem sehr einfach, eigentlich sehr simpel: Von Bord rollen, bis hoch zur 11th Avenue und dann links abbiegen, bis ich irgendwann auf mein Bed & Breakfast stoße.
Keine 5 Kilometer mehr.
Ein Kinderspiel.

Falsch gedacht.

Äh ... wie bitte?!?

Ich traue meinen Augen nicht, als ich das Hafengelände verlasse und zusammen mit einer Gruppe Fußgänger an einer Ampel stehe - vor mir geht es fast senkrecht nach oben! Ich stöhne, ich heule, ich staune.

So trete ich gegen die erste Wand an. Von ganz unten - der First Avenue - bis ganz oben muss ich. 11th Avenue. Elf Blöcke. Wie weit mag ein Block sein?, überlege ich mir, als ich mich abmühe, mich im kleinsten Gang die weit über 15 % Steigung hinauf zu schrauben.

Unglaublich, denke ich, so etwas hätte ich von San Francisco erwartet, nicht aber hier in Seattle. Wieso habe ich davon nichts in meiner Vorbereitung gelesen?

Ich erreiche mit Ach und Krach die Third Avenue, nur noch 8 Blöcke nach oben, rekapituliere ich - und sehe mich dem nächsten Problem gegenüber: Ich muss mich ein Stück den Highway entlang kämpfen. Halsbrecherisch, vielleicht ein wenig nihilistisch, stürze ich mich die Auffahrt hinunter und lande inmitten eines mörderischen Feierabendverkehrs.

Die letzten Meter verlangen noch einmal alles.

Fünf Spuren neben mir tobt der Verkehr. Hupen, Drängeln, Beschleunigen - und ich mittendrin. Abgekämpft, schwer atmend, fertig. Es ist heiß, mir schmerzen alle Gelenke, die Knie scheinen zu glühen, mehr noch, als die Sonne über mir, die mir den Schweiß in Strömen durch den Helm sickern lässt.

Nach einer Viertelstunde kann ich den Highway verlassen - und muss das erste mal überhaupt auf das kleinste Blatt wechseln. Selbst am Rogers Pass und auch nicht auf der Mördersteigung von Kamloops musste ich je auf das kleine Blatt - jetzt, während der letzten paar Kilometer meiner 1.300 Kilometer langen Reise, jetzt, wenige Minuten vor meinem Ziel muss ich also den "Babygang" einlegen.

So sehen 50 % Steigung aus. Fahren kann man sowas nicht mehr. Schieben übrigens fast auch nicht.

Und wieder bleibe ich in der Steigung stecken. Wie viel mag das hier sein? Ich schätze, dass es auf 2 Meter wenigstens um einen Meter bergan geht. Das wären 50 % Steigung. Keine Ahnung, ob ich fantasiere oder das hier alles wahr ist - ich bleibe förmlich stehen.

Schaffe keine einzige Umdrehung mehr. Muss absteigen. Muss schieben. Und wie ein Mulitreiber hänge ich am Hinterteil meines Liegerades und quäle mich, metallisch krächzen die Cleats über den Gehsteig, peinlich berührt die Steigung hinauf.

5th Avenue steht da. Nicht einmal die Hälfte geschafft - und halbtot.

Eine gute Nachbarschaft - hier sieht es nett aus. Hier bleibe ich.

Da wird die Nachbarschaft plötzlich ruhiger: Die Hochhäuser von Downtown liegen hinter mir und ab der neunten Avenue kann ich sogar wieder Rad fahren. Vor mir, keine 300 Meter entfernt, sehe ich ein Liegerad, aber der Kollege ist unbeladen, viel schneller als ich und hat wahrscheinlich auch nicht soeben eine fünfzigprozentige Steigung abreiten müssen.

Ich biege vom East Denny Way links in die 11th Avenue ab. Es ist eine typisch amerikanische Häuserstraße. Nicht speckig, aber auch nicht Blankenese-artig sauber. Ganz normal. Nett. Anheimelnd.

Und dann, dann finde ich es endlich. Mein Bed & Breakfast. Ich fahre zunächst fast daran vorbei, dann drehe ich um, rolle auf den Hof, die letzten Meter.
Zwei Meter noch. Ich klinke meinen linken Schuh aus.
Einen Meter noch. Ich bremse.
Halte an.
Die Tour ist vorbei.

Atmen. Nur atmen.

Die Villa nehmen wir doch!

Dave, der Innkeeper, begrüßt mich einige Minuten nachdem ich angekommen bin. Grinsend kommt er mir entgegen, ruft "Ah, the Cyclist!" und fragt mich strahlend, wie mir die Berge Seattles gefallen haben.

Ich schnaufe nur und schaue ihn an, als würde ich ihm gleich den Hals umdrehen. Er grinst nur weiter und meint, dass alle Fahrradfahrer mit diesem Gesicht bei ihm ankommen würden - und er, aus psychologischen Gründen - bei den Email-Kontakten nie etwas über die extrem steilen Anstiege in Seattle sagt.

Tatsächlich, so meint er, sei sogar Frisco weniger steil, als der East Denny Way, über den ich mich bis hierher zu ihm hinauf gekämpft habe.
So parke ich meine Speedmachine hinter der Riesenvilla in einer Garage, wo Dave dann auch schon meinen ihm aus Calgary zugesandten Pappkarton bereit gestellt hat. Dann zeigt er mir mein Zimmer.

Und wieder ein Goldstück - das 11th Avenue Inn ist großartig.

Und wieder beglückwünsche ich mich selbst: Das Haus ist riesig, hat alle Annehmlichkeiten, die man sich wünschen kann, einen riesigen Salon mit einer ebeno beeindruckenden DVD-Sammlung, geschmackvoll mit echten Möbeln (kein billiger Hotelbedarf) eingerichtete Zimmer und so lasse ich mich, nachdem ich heiß und ausgiebig geduscht habe, auch erst einmal in mein Bett fallen, reibe meine Beine mit dem guten alten Klosterfrau Franzbranntwein ein und atme.

Atme einfach nur, schaue auf die Karte und denke mir - nun war es das. Das war die Fahrt. Vorbei. Aus. Ende.

Noch morgen einen schicken Tag in Seattle verbringen und dann geht es auch schon wieder heim. Unfassbar. Augenblicklich sind auch die Wadenschmerzen verschwunden. Weg, hinfort, ebenso, wie all die Strapazen dieser Tour.

Da geht es morgen rauf - die Space Needle.

Von Weitem grüßt die Space Needle, als ich vor die Tür trete um mir im Kiez ein kleines Restaurant zu suchen, wo ich mich satt essen kann. Viel nach Entdecken ist mir heute nicht mehr, dafür habe ich morgen den ganzen Tag, also irre ich einfach ein wenig ziellos umher und suche, wonach mir der Sinn steht: Italienisches Essen.

Und so finde ich einen großartigen Italiener, lasse mich nieder und genehmige mir erst einmal ein großes Oktoberfest-Bier. Die Leute sind entspannt, fröhlich. Ich sitze an der Bar, esse eine Riesenpizza, trinke mein Riesenbier und versuche, die Etappe, nein, die ganze Tour Revue passieren zu lassen. Was nicht geht. So müde bin ich, so ausgelaugt.

Meine Beine tragen mich wankend zurück ins B&B, die Tür geht knarrend hinter mir zu. Ich lande im Bett. Es duftet nach Franzbranntwein, dem Duft der Athleten. So träume ich weg. Morgen, denke ich noch als Letztes, morgen mache ich einen Tag Urlaub hier - und so sehr ich meine Speedmachine liebe, ich bin heilfroh, jetzt erst einmal keine einzige Umdrehung mehr aus ihr herausholen zu müssen.

Gefahren: 130,37 km in 5:12 h und einem glatten 25er Schnitt