Leisure in the City

Tag 16 + 17: Seattle - Home

Es ist der Tag der Tage. So großartig, so toll das Gefühl, es geschafft zu haben, so überwältigend die Endorphine, die durch meinen Körper schießen und immer wieder dieser eine Satz, diese eine Idee, die immer wieder in meinem Kopf aufblinkt: Du hast die Rockies gerockt!

Es ist vielleicht dieses eine Gefühl, diese kleine Millisekunde, eine kleien Feststellung, eine Erkenntnis, die mich so unendlich glücklich macht - und die keiner nachvollziehen kann, der es nicht selbst schon einmal erlebt hätte.

Ich habe also die Rockies gerockt! Wie cool ist das denn bitte?!

Ich erwache langsam - kein Druck, keine Strecke, die ausgedruckt neben mir auf dem Nachttisch liegt, keine gezackten Höhenprofile, die mich abschrecken, keine Distanzen, die ich schaffen muss - 8 Uhr? Was solls, ich drehe mich noch einmal um und schlafe wieder ein. Ich kanns mir leisten - ich bin ja da. Angekommen. Plan geschafft.

Gegen 10 erwache ich wieder. Fühle mich erholt. Naja, denke ich, als ich aufstehe und fast das Knirschen meiner Waden hören kann, wohl doch nicht so. Schalte einen Ganz tiefer, dusche, setze mich unten in das Speisezimmer und werde von der Hausmutter mit einem wundervollen, frisch zubereiteten Frühstück versorgt - und dazu endlich einmal genialer Kaffee.

Heute, so erzähle ich den anderen auf ihr Fragen hin, heute lasse ich alle Fünfe gerade und entdecke die Stadt. Mehr nicht.

Wenig später stehe ich unten am Hafen, wo ich gestern angekommen war, und starte meine Erkundungstour. Seattle, das will ich mir erlaufen. Wie immer, wenn ich irgendwo bin, kann man den Flow einer fremden Stadt am besten erfahren, wenn man seine Füße benutzt, um sie zu erobern.

Seattle kommt weltstädtisch daher - immerhin befindet sich hier die Konzernzentrale eines so großen Unternehmens wie Real Systems - trotzdem aber habe ich Downtown, wo die Wolkenkratzer stehen, in 10 Minuten durchlaufen. Manhattan ist eben woanders. Auf der anderen Seite dieses Kontinents.

Und immer wieder fallen mir die Radwege auf und die Radfahrer - es wimmelt hier nur so von ihnen. Eine sportliche Stadt, ohne Übertreibung: Allenthalben schießen Moutainbiker die irren Steigungen empor, sausen Rennradler die Avenues auf und ab oder flitzen verrückte Fixie-Fahrer durch die im täglichen Stauchaos dahinkrauchenden Blechlawinen.

Irgendwo lese ich, dass Seattle im Jahre 2015 mehr fahrradfahrende Commuter haben will, als Kopenhagen, weltweit die Stadt mit dem höchsten Fahrradanteil. Na denn man ran, denke ich.

Mein erstes Ziel ist natürlich die Space Needle. Muss sein, Pflichtprogramm, wie das Empire State in New York oder der Michel in Hamburg. Die 10 Dollar Eintritt tun nicht weh - so, wie übrigens alle Preise in den USA. Zurzeit das Euro-Paradies schlechthin.

Ein gläserner Außenfahrstuhl bringt uns mit den beruhigenden Erläuterungen einer Fahrstuhlführerin in luftige 158 Meter Höhe. Der Ausblick ist genial.

Im gleißenden Sonnenlicht liegt Seattle da unter mir. Ich kann sogar bis hinüber nach Bainbridge Island schauen, von wo ich gestern die Fähre genommen habe.

Im Osten drohen schroff die Gipfel der Rockies - ich grinse ihnen zu, zwinkere keck und danke ihnen für die wunderbaren 1.300 Kilometer der letzten 3 Wochen. Verschrecken können mich die Berge nicht mehr.

Ganz hinten, im Dunst, Tacoma, die zweite Stadt, mit der Seattle langsam zu einer Megacity verwächst. In der Mitte, irgendwo, der Flughafen, von dem ich morgen starte.

Wieder zurück in meinem Kiez, laufe ich noch Stunden umher. Ich suche das Grab von Bruce Lee, es muss irgendwo in der Nähe meines Bed & Breakfasts sein, aber was ich finde, ist der Probenraum von Nirvana. Auch nicht übel.

In einem Restaurant, das "Free Tibet" heißt, esse ich eine Riesenportion ... Irgendwas ... das so großartig schmeckt, dass ich noch eine kleine Portion nachordern muss. Kein Problem, die Jungs sind freundlich hier, alle ein bisschen alternativ, ein bisschen links - ganz so, wie ich es liebe.

Eine attraktive Mischung aus Berlin Kreuzberg, Brooklyn NY und Hamburgs St. Georg ist das hier - bunte Paradiesvögel flanieren ebenso, wie Studenten und Punks. Ich mag es hier, genieße es, mich mit meinem Latte ins Straßencafé zu setzen, den Leuten zuzuschauen und mein Tagebuch zu schreiben.

Irgendwann, es ist spät, kehre ich heim ins 11th Avenue Inn, packe meine Klamotten und muss mich schon wieder verabschieden. Unglaublich, dass das jetzt fast 4 Wochen waren! Unglaublich, dass dieser Monat schon wieder vorbei ist!

Ich denke an Calgary und wie ich, verschüchtert wie ein Eichhörnchen, meine ersten Meter auf dem Highway gefahren bin, ich denke an Banff, diesem Kleinod inmitten der Berge, dessen Tunnel Mountain mir einen Blick ins Morgen und einen ins Gestern ermöglicht hat, ich denke an die Steigungen des Rogers Pass, die mir so viel Angst gemacht haben, ich denke an Martin, den Cellisten von Kamloops, an 76 irre km/h, die ich nach Hope hinabgeschossen bin, an meine Erleichterung, dass Vancouver nun doch keine Atomwaffen mehr hat und an Victoria, wo ich wie ein Kaiser gewohnt habe.

Bilder, Gerüche, Sounds, sie zucken an meinem Auge vorbei, als ich einschlafe, mich wegträume und ... mich dann doch ein bisschen auch auf Hamburg freue, meine Freunde, meine Agentur, meine Wohnung und meine Familie. Mama und Papa anrufen. Wieder Deutsch sprechen. Tolle Aussichten.

Und irgendwie, obwohl mir die riesigen Autos, die mit laufendem Motor während des Einkaufens parken, die langweiligen Städte, die dicken Ärsche überall und das ganze "Support our Troops"-Gedöhns mächtig auf die Nerven geht, werde ich sie vermissen, diese trotzdem so liebenswürdigen, freundlichen, manchmal erstaunlich ungebildeten, aber wenigstens interessierten Amis.

Und die Kanadier natürlich, die all das sind, was wir an den Amis mögen ohne das zu sein, was wir an den Amis nicht so sehr mögen.

Am Airport treffe ich noch Mike, einen Liegeradfahrer aus Seattle. Er kommt extra 50 Kilometer angefahren, um mich zu treffen. Auf Twitter hat er meine Strecke verfolgt, mir sogar angeboten, mich und mein Fahrrad zum Airport zu fahren, damit ich das Taxigeld spare.

So sitze ich mit ihm ein, zwei Stunden in der Lobby, wir trinken Kaffee und erzählen über dies und das. Mike - it was a pleasure to meet you!

Dann stirbt Michael Jackson, der Flughafen weint, auf einmal dröhnt von überall her "Beat it" und "Thriller", ich glaube, ich bin im falschen Film, als ich meinen Jumbo besteige, einschlafe und 13 Stunden später in Hamburg meine Wohnungstür aufschließe, meine Speedmachine lasse ich noch einen Tag im Transportkarton, beschließe ich.

1.288 Kilometer durch Kanada. Ich habe mir einen Traum erfüllt.

Und wisst Ihr, was das Beste daran ist? Ich habe noch nicht einmal meine verschwitzten Radlerklamotten aus meinen Fahrradtaschen genommen, da überlege ich schon, welchen nächsten Traum ich mir erfüllen kann.

Und mal ehrlich: Wie toll ist das denn bitte?!?